Außenseiterstatus

Streaming-Tipps KW 20

The Essex Serpent, 2022, Clio Barnard

Claire Danes jagt eine viktorianische Schlange (Apple TV+), Michael Mann ist zurück im TV (Starzplay). Und ein Cannes-Bonustipp (Mubi).

Viele warten auf die Fortsetzungen von Stranger Things oder Westworld, oder auf den Beginn von Obi-Wan Kenobi. Doch es gibt zwei Serien-Alternativen bzw. zwei Serien, die das Warten angenehmer machen.

Zum einen ist das ein stimmungsvoller Yakuza-Thriller mit Noir-Einschlag, den Michael Mann mitproduziert hat – inklusive schattige Gassen und lodernde Neonlichter. Tokyo Vice (beim Prime Video Channel Starzplay) basiert auf den Erinnerungen eines amerikanischen Journalisten aus Missouri, der sich in den Neunzigern in Tokio ein Leben aufbaute und im Jahr 2009 eine actiongeladene Abhandlung über seine Zeit dort schrieb, mit dem Titel „Tokyo Vice: An American Reporter on the Police Beat in Japan“.

Das erste, was über die TV-Adaption von J.T. Rogers gesagt werden muss, ist, dass sie wirklich gut aussieht. Michael Mann hat seit dem Tech-Actioner Blackhat (2015) keinen Film mehr gedreht. Er war im Jahr 2006 für die Verfilmung der Fernsehserie Miami Vice verantwortlich, aber er hat bei keiner einzigen Folge der 1980er Hit-Serie Regie geführt. Trotzdem war es der amerikanische Kult-Regisseur, der als Produzent den beispiellosen Stil und Ton von Miami Vice geschaffen hat. Bei der Tokyo-Edition spielt er nun eine ähnliche Rolle. Er saß nur bei der Pilotfolge im Regiesessel, aber die Serie hat den unverwechselbaren Mann-Stil, von den schmuddeligen Kneipen bis hin zu den High-End-Clubs, den Tattoos auf den Körpern japanischer Mafiosi, und dem Neon, das die Nacht in Blau, Rot und Pink eintaucht, ein besonderes Merkmal so vieler Werke des Filmemachers, darunter Collateral und Heat.

ansel elgort, rinko kikuchi in tokoy vice
Tokyo Vice, 2022–, J.T. Rogers

Creator J.T. Rogers und Michael Mann zügeln sich ein wenig, aber hier gibt es viel Liebe zum Verbrechen, männliche Egos und Frauen (darunter Rachel Keller und Rinko Kikuchi), die sich in der japanischen Unterwelt zurecht zu finden versuchen.

Ansel Elgort (Baby Driver) spielt den Kriminalreporter – Michael Mann inszeniert ihn als Außenseiter, wenn er als einziger weiße Riese durch ein Meer von Japanern läuft. Er ist ein moderner Amerikaner, der in Japan merklich fehl am Platz ist. Trotzdem schafft er es, der erste Auslandsreporter zu werden, der jemals von Japans größter Zeitung eingestellt wird. Doch die Zeitung will nicht, dass er auf eigene Faust über gewisse Morde recherchiert. Ein Polizist erklärt ihm: „In Japan gibt es keinen Mord“. Die Bullen und die Medien sprechen lieber über „ungeklärte Todesfälle“.

Noch wichtiger hier ist Ken Watanabes Detektiv. Der japanische Schauspieler ist ein klassischer, hartgesottener Noir-Kerl. Ganze Packungen japanischer Zigaretten werden verraucht, während man den Backstreet Boys und Guns n’ Roses lauscht. Es gibt viele Klischees: schreiende Redakteure, Rookies und bestechliche Polizisten. Aber eine der besten Szenen ist vielleicht jene, in der ein japanischer Mafioso zu „I Want It That Way“ im Radio mitsingt und sich der „wahren Bedeutung“ des Songs ziemlich sicher ist.

Ob man die folgende Serie liebt, hängt eventuell davon ab, wie sehr man es genießt, Tom Hiddleston in kuscheligen Wollpullovern und Claire Danes in viktorianischen Kostümen dabei zuzusehen, wie sie sich im englischen Nebel ineinander verlieben. Aber The Essex Serpent (Apple TV+), eine sechsteilige Adaption von Sarah Perrys preisgekröntem Roman, bietet mehr als das: Aberglaube, Wissenschaft und Religion prallen im Jahr 1893 in einem Fischerdorf in Essex aufeinander, als ein Gerücht über eine biblische Seeschlange auftaucht, von der viele glauben, dass sie ein Mädchen getötet hat. Einige denken, dass die rachsüchtige Bestie gekommen ist, um die Dorfbewohner für ihre Sünden zu bestrafen. Andere wie Tom Hiddlestons verheirateter Dorfpastor Will Ransome, halten das für Unsinn. Claire Danes Witwe Cora Seaborne vermutet, dass es sich um eine Art Dinosaurier handeln könnte. Befreit durch den Tod ihres brutalen Mannes, taucht sie im Ort auf, um nach Fossilien zu forschen, aber die Einwohner wollen nichts von ihren modernen Ideen wissen, schreien Hexe, und tauchen mit ihren Kruzifixen auf. Cora ist starrsinnig, provokant und buddelt in roten Kleidern im braunen Schlamm (sie hat ein bisschen was von Carrie Mathison in Homeland).

Alle Arten von Veränderungen liegen in der Luft. In der Großstadt marschieren Suffragetten und Sozialisten, und Coras dreister Arztfreund Luke Garrett (Frank Dillane) operiert am offenen Herzen und experimentiert gleichzeitig mit den Ideen von Sigmund Freud.

Neben der Frage, ob es eine Schlange gibt, ist das Ganze eine Art Schauer-Romanze mit einem Hauch von Jane Austen. Die Idee, dass die Fossilforscherin und der Pastor trotz aller Widerstände vielleicht zusammen kommen, ist charmant, ebenso wie die viktorianische Atmosphäre. The Essex Serpent, unter der Regie von Clio Barnard (The Selfish Giant), hat den dunklen Look, den man sich von solch einer Serie erhofft. Große Anerkennung gebührt dem Kameramann David Raedeker (The Souvenir), dessen erstaunlich schöne Bilder der salzigen Küste von Essex einen ganz eigenen Charakter verleihen.

(Abschließender Hinweis der filmfilter-Redaktion): Mubi lässt uns angesichts der gerade laufenden 2022-er Ausgabe am vorigen Filmfest von Cannes teilhaben. Da lief nämlich die Philip-Roth-Adaption Tromperie von Arnaud Desplechin, und die ist heiß, intellektuell, jüdisch, literarisch, prickelnd, erotisch. Deception, so der internationale Titel, hat feministische Kritik hervorgerufen wegen stereotyper weiblicher Rollenbilder und insgesamt mäßigen Zuspruch bekommen – ist aber dennoch und vor allem wegen Léa Seydoux sehenswert.