And now for something different

Streaming-Tipps KW 22: Johnny Depp

Johnny Depp, The Professor
The Professor, 2018, Wayne Roberts

Ein für beide Parteien schadhaftes Gerichtsverfahren, an dem gefühlt die halbe Welt teilgenommen hat, ist zu Ende. Darin wurde Johnny Depp sogar von seinem Anwalt auf die Rolle des Piraten Jack Sparrow reduziert, also erinnern wir an eine weniger bekannte und doch denkwürdige Performance des Ausnahme-Akteurs.

Was gibt es noch zu sagen über den peinlichen Heard-Depp-Prozess? Peinlich war er für beide Seiten, soviel steht fest. Wir haben Dinge gehört und gesehen, die nicht für unsere Ohren und Augen bestimmt waren: Szenen einer toxischen Beziehung. Stars sagten aus – zumeist zugunsten Depps –, Fans ergriffen Partei und belagerten das Gericht; dutzende Möchtegern-Influencer hängten sich dran und produzierten quasi als Laien-Richter:innen hunderte (Spam-)Videos, um selbst von den Fremdscham evozierenden Vorgängen via Social Media zu profitieren. Ein für die Hauptnachrichten des ORF interviewter US-Experte befand, Depp habe einfach „die bessere Performance geliefert“. Anstatt die vielen Verlierer des Verfahrens aufzuzählen, nehmen wir diese abenteuerlich schlichte Aussage zum Anlass, um zum Wesentlichen zurückzukommen.

Liebe Amber-Heard-Fans, verzeihen Sie dem Sofa Surfer, aber das Wesentliche sind für uns nicht Heards Performances, sondern jene von Johnny Depp. Über den Film, im Zuge dessen die längst Geschiedenen einander kennengelernt haben, breiten wir den Mantel des Schweigens – wäre The Rum Diary bloß nie entstanden! Dann hätte die halbe Welt womöglich nicht elf Jahre später wie gebannt darauf starren können, wie Depp sturzbetrunken seine Küche demoliert (ein heimlicher Videomitschnitt Heards), oder hören können, wie Heard (in heimlichen Audiomitschnitten Depps) verharmlost, ihn geschlagen zu haben. Nur zum Beispiel.

Dass Johnny Depp es versteht, aus einem mediokren Drehbuch mit ein paar gut sitzenden One-Linern und einer freihändig nonchalanten Darbietung einen denkwürdigen Film zu machen, bewies er zuletzt 2018 mit dem eher unbekannten Werk The Professor aka Richard Says Goodbye (um rund 2 bis 4 Euro auf diversen Plattformen). Nur etwa jede zehnte US-Kritik konnte dem in der Regie von Wayne Roberts entstandenen Film damals etwas abgewinnen, dagegen aber vier von fünf Usern – so eine Diskrepanz ist selten. Depp spielt den Literaturprofessor eines altehrwürdigen Colleges, dem Lungenkrebs diagnostiziert wird und der noch rund ein halbes Jahr zu leben hat. Seine Konsequenz ist nicht Therapie, sondern Laissez-faire: Herumvögeln, saufen, kiffen und seine Klasse auf zehn ernsthaft Interessierte reduzieren – die anderen dürfen mit einer Durchschnittsnote heimgehen. Nur schafft Richard es nicht, seiner Tochter (die sich gerade als lesbisch outet, was ihm gut gefällt) und seiner Frau (die ihn mit dem Rektor betrügt) reinen Wein einzuschenken. Das Setting ist wohlbekannt und leicht klischiert, vor allem die dialogische Umsetzung aber so erfrischend, dass The Professor mehr zum Lachen bringt als die meisten rezenten unter dem Label Comedy erscheinenden US-Filme. Gegen Ende wird es programmiert melancholisch, aber bis dahin hält die One-Man-Show Johnny Depp die Chose mit einer exquisiten Mischung aus distinguiertem Benehmen und hedonistischer Wurschtigkeit beisammen.

Warum die US-Kritik den Film damals nahezu einhellig ablehnte? Vielleicht weil Marihuana-Konsum darin nicht als verwerflich dargestellt wird. Oder weil das elitäre College-Personal abgesehen von Richard und seinem weichherzigen Freund Peter (Danny Huston) ziemlich schlecht wegkommt. Vielleicht auch, weil Richard die meisten seiner Student:innen als „corporate whores of tomorrow“ aus der Klasse vertreibt (Ausnahme: Claire, gespielt von Zoey Deutch, die einen Narren an ihm frisst, mit der er aber gerade keine Affäre eingeht.) Vielleicht missfiel manchen Kritikerinnen, dass Richard die in seiner Klasse verbliebene Feministin verspottet – so einer muss doch misogyn sein. Ziemlich sicher aber spielten Heards damalige Missbrauchsvorwürfe gegen Depp mitten im gerade aufgebrandeten Metoo-Movement eine Rolle. Eine amerikanische Kollegin schrieb recht unverhohlen: „given the uncertain future of Depp’s career (being axed from the Pirates of the Caribbean franchise, for example), it might also have been titled Johnny Says Goodbye“.

Wir meinen: Johnny should not say goodbye. Trotz seiner teils schablonenhaften Nebenfiguren hat Depps Professor in Richard Says Goodbye nun eine neue Chance verdient. Selten in einer jüngeren amerikanischen Tragikomödie ist eine tödliche Krankheit humorvoller und zugleich unpeinlich abgehandelt worden, von Me and Earl and the Dying Girl (2015) einmal abgesehen. Überhaupt hat Johnny Depp eine neue Chance verdient. Haben alle vergessen, welche magischen Momente der Mann schon auf die Leinwände gezaubert hat? Damit sind nicht nur seine einfühlsamen, legendären Außenseiter-Darstellungen gemeint. Über drei Jahrzehnte, von Edward Scissorhands (1990, Tim Burton) bis zu Detective Russell Poole in City of Lies (2018, Brad Furman) – einer komplexen Bearbeitung des heiklen, weil im L.A.P.D. selbst verorteten Mordfalls Notorious B.I.G. – haben Johnny Depps Figuren sich in die Herzen und Hirne des Publikums gebrannt.

Wir erinnern kurz an weitere Leistungen Depps, die seine jüngsten Auftritte in dem blamablen Prozess gegen seine Ex-Frau lang überdauern werden, nehmen wir nur ein paar davon: What’s Eating Gilbert Grape (1993, Lasse Hallström), Ed Wood (1994, Tim Burton), William Blake in Dead Man (1995, Jim Jarmusch), Donnie Brasco (1997, Mike Newell), Raoul Duke in Fear and Loathing in Las Vegas (1998, Terry Gilliam), Ichabod Crane in Sleepy Hollow (1999, Tim Burton), George Jung in Blow (2001, Ted Demme), Willy Wonka in Charlie and the Chocolate Factory (2005), Sweeney Todd (2007, beide: Tim Burton), John Dillinger in Public Enemies (2009, Michael Mann) oder Whitey Bulger in Black Mass (2015, Scott Cooper). Zuletzt spielte Johnny Depp – unter dem Beifall der Auskenner:innen – einen der großen US-Fotojournalisten des 20. Jahrhunderts, nämlich W. Eugene Smith, in Minamata (2020, Andrew Levitas).

Möge die Zeit der Peinlichkeit vorbei sein und Johnny Depp sich ein paar würdige Altersrollen besorgen! Die Rolle Ludwigs des XV. von Frankreich in Jeanne du Barry von Maïwenn wird seine insgesamt hundertste Performance und könnte ein guter Neuanfang werden. Und bitte: Wenn schon eine Verfilmung des Depp-Heard-Streits, dann frühestens in zwanzig Jahren. Danke.