„Pearl“: Ti Wests Slasher-Prequel zu „X“ inszeniert Mia Goth unter der Südstaatensonne als impulsive Mörderin, mit der man auch mitfühlen darf. Dazu spielt der Film Vintage-Camp-Noten.
Der Slasherfilm, lange Zeit als schlimmer oder schöner Unsinn verteufelt oder geliebt oder auch als lustig-selbstironisches Meta-Kino geschätzt, ist ein Sammelbecken für allerlei garstige Neurosen. An der Oberfläche (und manchmal auch drunter) meist irgendwas mit Sex: Männer mit verunstalteten Gesichtern bestrafen Frauen und ihre Liebhaber dafür, dass es denen nicht so schlecht geht wie dem armen Tropf mit dem Messer oder der Axt. Alles in allem traditionell doch sehr puritanisch strukturiert, das Subgenre.
Frauen mit Axt kommen auch vor, aber eher selten, und dann verschiebt sich natürlich alles, weil die Desolatheiten eben jeweils anders verteilt sind. Ti West und Mia Goth haben in ihrem Script zu Pearl eine Figur entworfen, die auf ihre Nächsten (Familie, Liebhaber, Freundin) buchstäblich einhackt, und das Gehacke als Ausbruchs- und Loslösungsversuch erzählt. Die jung verheiratete Pearl (Mia Goth) will nur noch raus aus der Enge der elterlichen Farm. Der Vater ist ein kompletter Pflegefall, die Mutter ein verhärteter Unglücksmensch, Pearls Ehemann in Europa weil Erster Weltkrieg. Im Land tobt die Spanische Grippe. Das sind so Bedingungen, unter denen man als Mensch, der zuerst kleine und dann immer größere Tiere quält, schon mal richtig auffällig werden kann.
Ti West schafft es, die Balance zu halten. Seine Heldin ist einerseits eine genretypische Psychopathin: leichte Tendenzen Richtung Schizophrenie, Impulskontrollprobleme, Borderline. Andererseits, und das kommt in einem Slasherfilm ansonsten gar nicht so häufig vor, wird das, was das Morden hier befeuert (Trauma oder Neurose meist, oder auch beides), für den empathischen Zuschauer, die empathische Zuschauerin nachvollziehbar. Aus so einer Welt muss man entkommen, und jeder Mensch, der Pearl mitteilt, dass sie wird bleiben müssen oder zumindest diese Ahnung in ihr auslöst, wird angezündet oder mit der Mistforke oder der Axt über die Gegebenheiten aufgeklärt. Und dann einem Krokodil zum Fraß vorgeworfen. So viel Spaß muss sein.
Das Krokodil kennt man schon aus X (unsere Besprechung), dem vorigen Film von Ti West, zu dem Pearl ein Prequel bildet. Hier ging die ins Greisinnenalter geschminkte Mia Goth auf eine Gruppe Pornofilmemacher:innen los, unter anderem auf ein jüngeres, ebenfalls von Mia Goth gespieltes Pearl-Lookalike, das naturgemäß genauso aussieht wie nun die Heldin in Pearl. In X richtete sich die mörderische Wut noch gegen das im Rückblick gute Leben, das von der hippiesken Pornobande repräsentiert wird und das man selbst nicht gelebt hat. Im Prequel geht es nun um den Versuch, etwas anderes zu werden als für einen vorgesehen ist. Und wer X kennt, weiß, dass eben das der Heldin nicht gelingen wird. Was diesen Film dann auch wieder sehr anrührend werden lässt. Man kann in diesem Slasher irgendwie niemandem böse sein.
All das hat Ti West als sonniges Country-Drama inszeniert. Pearl spielt über weite Strecken unter dem hellen Südstaatenhimmel, und es ist immer schön, wenn der Horror nicht – wie sonst eigentlich immer – in die Dunkelheit verlagert wird. Das zeigt vielleicht auch an, dass die Figur und das ganze Drama um sie herum hier wichtiger sind als die allerdings sehr schön gebauten Tötungsszenen in Retro-Ästhetik oder etwaige Versuche, das Publikum zu terrorisieren. Das würde eh nicht klappen: Pearl ist so konzipiert, dass man auch mit geringer Slasher-Expertise immer exakt drei Minuten vorher weiß, wer gleich sterben wird. Im Mittelpunkt dieses Filmes steht nicht die spektakuläre Tötungsszene, sondern der Mensch.
Pearl
USA 2022, Regie Ti West
Mit Mia Goth, David Corenswet, Tandi Wright, Emma Jenkins-Purro
Laufzeit 103 Minuten