Ganz reale Magie

Rätselhafte Familiengeheimnisse: „The Five Devils“ – im Kino

Mysius, The Five Devils
Les cinq diables, 2022, Léa Mysius

„The Five Devils“: Ein Mädchen kann Gerüche reproduzieren, die es dann in Gläsern aufbewahrt – und das führt in diesem dunklen, formvollendeten Drama von Léa Mysius zu unheimlichen Erinnerungen. Ab 12. Mai auch in AT im Kino.

Léa Mysius hat 2017 mit Ava einen der schönsten Coming-of-Age-Filme der vergangenen Jahrzehnte gedreht (hier eine damalige Kritik). Neben dem alles überstrahlenden Aftersun von Charlotte Wells  übrigens (unsere Besprechung). Wenn das Genre einen erstmal am Haken hat, gibt es nur wenige Filme, die einen vollkommen kalt lassen. Irgendwas greift immer. Was den an der Funktionsweise der Bilder Interessierten natürlich schnell zur Frage bringt, was gerade den Blick zurück – wenn man mal von einer erwachsenen Zuschauerin, einem erwachsenen Zuschauer ausgeht – so aufschlussreich und eben auch berührend werden lässt.

Es ist in diesem Fall eventuell alles ganz einfach: „Fünf kurze Jahre zwischen dem 13. und dem 18. Lebensjahr – mehr Zeit lässt uns die über Lohnarbeit vergesellschaftete Zivilisation nicht, den Verstand auszuprobieren und zu entwickeln“, hat der Schriftsteller Dietmar Dath einmal behauptet; „und ausgerechnet in dieser Phase bringt dann der Sexualkrempel alles durcheinander“. Das sei so tragisch wie witzig. Coming-of-Age-Erzählungen kreisen um diesen Moment, in dem noch alles offen, wenn auch nicht schmerzfrei ist, die Phase bevor Verbürgerlichung und also Versteinerung und eben auch eine spezifisch erwachsene Form von Verblödung drohen.

Léa Mysius’ zweiter Film, The Five Devils, ist formal ähnlich formvollendet und filmästhetisch ideenreich wie ihr erster, der, bis auf die Energie, auch nichts mehr von einem Debütfilm hatte – zu sicher und zugleich eigensinnig in der Wahl und Umsetzung der filmischen Mittel. Allerdings spart The Five Devils die eigentliche Coming-of-Age-Phase gerade aus, zuerst zumindest, und erzählt von einer Tochter, einem achtjährigen Mädchen, und ihrer Mutter. Um sie, die Phase, dann doch wieder ins Zentrum zu setzen.

Mysius, Dramé, The Five Devils
Sally Dramé

Der titelgebende Ort Les Cinq Diables ist ein etwas David-Lynch-artiges, bedrohlich anmutendes Bergdorf. Hier lebt Vicky (Sally Dramé) zusammen mit ihrer Mutter Joanne (Adèle Exarchopoulos) und dem neben der Familie eher halbbeteiligt herlaufenden Vater Jimmy (Moustapha Mbengue). Vicky wird an der Schule gemobbt, wegen ihrem Afro und vielleicht auch weil ihr Vater schwarz und ihre Mutter weiß ist. Außerdem verhält das Mädchen sich wunderlich. Sie kann Gerüche reproduzieren, die sie dann in Gläsern aufbewahrt. Den ihrer Mutter zum Beispiel. Das fällt ihren Mitschüler:innen auf, und wer seltsam ist, muss leiden.

Vicky hat das Erwachsenwerden noch vor, Joanne hat es bereits hinter sich. Zwischen den beiden liegt undeutlich eine dunkle Vergangenheit Joannes, ein Geheimnis. Das Coming-of-Age ist hier vorerst als eine Leerstelle präsent, die Vergangenheit der Mutter, die sich das Kind erschließt, das wie alle Kinder wissen will, wie die Beziehungen der Erwachsenen sich gestalten und funktionieren.

Vicky kann sich durch Gerüche, in heftigen Proust-Momenten, an Begebenheiten erinnern, bei denen sie nicht dabei war. Zum Beispiel an die Vergangenheit der Schwester ihres Vaters, Julia (Swala Emati), die nach einem längeren Aufenthalt in der Psychiatrie zurück in ihren Heimatort kehrt. Und an den damaligen „Sexualkrempel“ ihrer Tante und ihrer Mutter.

Die Atmosphäre, die Mysius in der Konstruktion dieses zugleich erdrückend kleinbürgerlichen wie auch mystisch-offenen Ortes erzeugt, trägt einen durch den Film. Das Traumhafte verleiht diesen Bildern etwas seltsam Flüchtiges. Obwohl es um gewichtige Dinge geht: eine Liebe jenseits dessen, was als Normalität gelten soll, die Geheimnisse, die man vor den Kindern hat und haben muss, ein Brand.

Das Erleben und die Wahrnehmung des Mädchens laufen weit ab von der Wahrnehmung der Erwachsenen und sind doch konstant auf sie bezogen. Das Fantastische ist in The Five Devils nur eine Chiffre für eine ganz real unheimliche Fähigkeit von Kindern, nämlich die Beziehungen der Erwachsenen intuitiv zu verstehen und sie zu spiegeln. Das Kind öffnet den Zugang zur Erinnerung, und da wären wir wieder am Anfang dieses Textes: der Erinnerung an die kurze Zeit, in der es andere Möglichkeiten gegeben hätte, als die, auf die das Leben zugelaufen ist, das man heute, als Erwachsener, lebt.

Die Form, die mit einer auch wieder real magischen Zwangsläufigkeit greift, ist die der bürgerlichen Kleinfamilie, in der die Wünsche und vor allem das Sprechen über die jeweiligen Wünsche, über das Begehren und die Wut über das, was das Glück verhindert, eingezwängt werden in eine sehr strenge, von der Gemeinschaft unablässig gestützte und verstärkte Matrix, die vorsieht, was legitim ist und was nicht. Und eine lesbische Liebe zwischen einer weißen und einer schwarzen Frau in einem Kleinstadtuniversum, das geht halt nicht, dafür müssen dann noch die Kinder bestraft werden. Die Erinnerung an das unrealisiert Gebliebene jedenfalls, die steckt im gesamten Genre als Versprechen und als Melancholie.

 

The Five Devils / Les cinq diables
Frankreich 2022, Regie Léa Mysius
Mit Adèle Exarchopoulos, Sally Dramé, Swala Emati, Moustapha Mbengue
Laufzeit 95 Minuten