Das Geheimnis eines Sommers

Einer der schönsten Filme des vergangenen Jahres: „Aftersun“ von Charlotte Wells – jetzt auf Mubi

Wells, Aftersun
Aftersun, 2022, Charlotte Wells

„Aftersun“ von Charlotte Wells erzählt auf wunderbare Weise davon, wie die Schmerzen der Eltern unausgesprochen ihre Kinder prägen.

Der letzte Sommer der Kindheit sorgt als Topos mitunter für die schönsten Filme. Stand by Me (Rob Reiner, 1986) ist der Klassiker. Ein jüngerer Film, der den Sommer als Transformationsraum so erzählt hat, dass die Kindheit der Zuschauer:innen Teil der Filmerfahrung wurde, als durch die Bilder beförderte Erinnerung, war Ava von Léa Mysius (hier eine Besprechung in nd). In beiden Filmen geht es um Erfahrungen, die man zum ersten Mal macht, und um solche, die man zum letzten Mal machen wird.

Charlotte Wells’ Debütfilm Aftersun schließt hier an und blickt auf den letzten Sommer der Kindheit noch einmal anders zurück. In Stand by Me ist die Erzählung in einen Rahmen eingebettet; ein Schriftsteller, der sich erinnert, erzählt, wie es war. Die Kraft der Erinnerung ist in der Verfilmung des Stephen-King-Romans ungebrochen und sozusagen omnipotent. Die Erzähler sind in den Geschichten Kings zumeist allwissend. In Aftersun aber geht es gerade um die Brüchigkeit der Erinnerung und ein quälendes Nichtwissenkönnen. Sophie (Celia Rowlson-Hall), erwachsen, erinnert sich an den letzten Sommer, den sie als Elfjährige (großartig: Frankie Corio) mit ihrem Vater Calum (ebenfalls großartig: Paul Mescal) verbracht hat, in einem Ferien-Resort in der Türkei, Ende der Neunzigerjahre.

Aftersun, Charlotte Wells
Paul Mescal, Frankie Corio

Wir sehen die beiden in ihren Ferien, und Aftersun findet wunderschöne Bilder und konstruiert präzise Momente, um eine liebevolle Vater-Tochter-Beziehung in Szene zu setzen. Bilder, die aber nichts zwangsharmonisieren. Calum schleppt etwas mit sich mit, und Sophie, als Kind wie als Erwachsene, weiß nicht, was es ist. Erwachsen und selbst Mutter geworden schaut sie sich die Videoaufnahmen des letzten gemeinsamen Urlaubs an, immer wieder, um hinter das (um den deutschen Untertitel von Stand by Me zu zitieren) Geheimnis dieses Sommers zu kommen. Ohne Erfolg – hieße Erfolg, dass man die Erinnerung auf einen Nenner, eine von da an gültige Wahrheit bringen kann.

Wir als Filmzuschauer:innen wissen noch weniger. Wells‘ Montage suggeriert subtil, dass Calum etwas Schreckliches passiert ist (die Rezensentenvermutung wäre schon ein Spoiler in diesem Fall). Auch einige Dialoge deuten etwas an, etwas Irreparables. Er hätte sich in ihrem Alter nicht vorstellen können, dass er Dreißig wird, erzählt Calum Sophie, der in dem Resort seinen 31. feiert. Und er glaube nicht, dass er es bis zur Vierzig schafft. Ein Weinkrampf, eine angedeutete Sehnsucht nach der Mutter seiner Tochter, von der er geschieden ist, Finanzsorgen, seltsam autistische Tänze allein auf dem Balkon: Charlotte Wells zeigt ihre Figur so, dass ihre immer präsente Dunkelheit nicht als extremer Gegenpol zum (genauso authentischen) Glück der Vater-Tochter-Beziehung wird, sondern als Teil dieser Beziehung. Das ist vielleicht schon ein Geheimnis, das Aftersun aufdeckt: Man kann das eine nicht ohne das andere haben, der Schmerz und die Verletzungen der Eltern aus allen Lebensphasen fließen ein in die Eltern-Kind-Beziehung und gestalten sie mit. Idyll und Harmonie sind Lügen, und das ist auch nicht schlimm, weil Glück eh etwas anderes ist als Idyll und Harmonie.

Aftersun nimmt den Vater konsequent durch die Augen der Tochter wahr (die Einstellungen auf ihn, bei denen sie nicht im Raum ist, müssten dann Teil ihres Fantasierens über ihren Vater sein). Und Aftersun erzählt wie nebenbei, aber eigentlich zentral, von der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend. Sophie interessiert sich sehr für die Beziehungen der Menschen um sie herum und dafür, was es heißt zu wachsen. Die wunderbar beiläufige, trotzdem immer fokussierte Kamera entspricht dem umherschweifenden, alle aufnehmenden kindlichen Blick. Letzter ist hier verbunden mit Sommersonnenlicht und geht ins Offene. Während der erwachsenen Figur die dunklen Räume vorbehalten sind. Die sommerliche Ferienleichtigkeit, die in diesen Bildern steckt, überdeckt alles andere beim Sehen genau so weit, dass einem erst beim Abspann oder am nächsten Morgen ganz in die Wahrnehmung rückt, was für ein unendlich trauriger Film Aftersun eigentlich ist.

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Aftersun
USA/UK 2022
Regie & Drehbuch Charlotte Wells
Mit Frankie Corio, Paul Mescal, Celia Rowlson-Hall
Laufzeit 101 Minuten