Warum ein weiteres Mal?

Komplexe Gefühle: „Tagebuch einer Pariser Affäre“ – jetzt im Kino

Mouret, Tagebuch einer Pariser Affäre
Chronique d'une liaison passagère, 2022, Emmanuel Mouret

„Tagebuch einer Pariser Affäre“ von Emmanuel Mouret, mit Sandrine Kiberlain und Vincent Macaigne: für Liebhaber:innen und solche, die es werden wollen – in AT und DE im Kino.

Chronique d’une liaison passagère, der Originaltitel dieses Films, ließe sich auch mit „Chronik einer flüchtigen Liebschaft“ übersetzen; Tagebuch einer Pariser Affäre macht dann aber doch die deutlichere Ansage und fügt mit dem Handlungsort gleich auch noch den gesamten metaphorischen Raum „Stadt der Liebe“ hinzu. Und schon weiß die Zuschauerin, was sie zu erwarten hat. Erst recht, wenn sie obendrein erfährt, dass Emmanuel Mourets Film – uraufgeführt im vergangenen Jahr beim Festival in Cannes und dort für die Queer Palm nominiert – von einem Mann und einer Frau handelt, die miteinander ins Bett, aber weiters keine Verpflichtungen eingehen wollen. Dass das nur schief gehen kann, ist allgemein bekannt, obgleich es ebenso bekanntermaßen außerordentlich selten Mann und Frau und alle dazwischen davon abhält, es immer wieder und aufs Neue zu versuchen.

Wir haben es hier also mit einer sattsam abgehangenen Geschichte zu tun und die Frage drängt sich auf: Warum noch ein weiteres Mal dabei zuschauen, wie zwei (oder mehr) sich gegenseitig die Herzen brechen, weil sie sich darüber hinwegtäuschen, dass Sex ohne Gefühle, die über denselben hinausweisen, im Allgemeinen nicht zu haben ist? Und während wir uns das noch fragen, sind wir auch schon mitten hinein gerauscht ins Geschehen, denn Mouret, der das Drehbuch zu seinem äußerst redseligen – ja, ich bin sogar versucht zu sagen, typisch französischen – Film zusammen mit Pierre Giraud geschrieben hat, fackelt nicht lange, sondern geht mit Schmackes in die Vollen.

Mouret, Tagebuch einer Pariser Affäre
Sandrine Kiberlain, Vincent Macaigne, Georgia Scalliet

Vorhang auf! Charlotte und Simon in einem Bistro, mit Gläsern im Gedränge hantierend, ihre Begegnung auf der Party neulich rekapitulierend und die Anziehung einschätzend, die zu einem ersten Kuss sowie dem Entschluss, einander wiederzusehen, geführt hat. Simon erzählt von Frau und Kindern, die er nicht verlassen, Charlotte von der Freiheit, die sie behalten will – und ab in die Kiste mit den beiden, wenngleich auch noch etwas unbeholfen. Dies begibt sich im März.

In der Folge werden wir Zeug:innen des Verlaufs der Liaison – Inserts, die Daten bis weit in den Juli hinein verkünden, markieren die einzelnen Kapitel –, beobachten wachsende Vertrautheit, Anflüge von Verunsicherung, Missverständnisse und Kränkungen, erste Einschläge von Verlustangst. Charlotte und Simon flanieren durch die Stadt, unternehmen Ausflüge, besuchen Museen, in denen die tolle französische Kunst im Hintergrund fast ein wenig davon ablenkt, dass die beiden im Vordergrund quasi ununterbrochen über ihre Beziehung reden, die eigentlich keine ist beziehungsweise sein soll. Vor lauter Bäumen sehen sie den Wald nicht, in dem sie sich immer weiter verirren. Dann kommt auch noch Louise ins Spiel und die Dinge werden richtig kompliziert.

Sagen wir mal so, für die Fans der Filme von Eric Rohmer und damit jene auserwählte Truppe von Cinephilen, die es lieben, Französ:innen bei der tiefgründigen Analyse ihrer komplexen Gefühle zuzuhören, ist Tagebuch einer Pariser Affäre eine veritable Fête. Desgleichen für jene, die Sandrine Kiberlain und Vincent Macaigne gerne bei der Ausübung ihres Berufs zusehen. Und auch wenn es Kiberlain mit dem Unbekümmertsein ein wenig übertreibt und Macaigne zusehen sollte, dass er nicht auf den schüchternen Kuschelbären reduziert wird – es ist sehenswert, wie die beiden im Zusammenspiel dem nie versiegenden Strom der Worte Herzblut beimengen: indem sie mit ihrer Körpersprache eine weitere Ebene einziehen, die die (Selbst-)Täuschungsmanöver der Figurenrede unterminiert. Auch hier findet also eine Analyse statt, denn nicht selten drückt sich in Mimik und Gestik der Widerspruch zu dem aus, was der dienstbare Mund soeben verkündet hat. Ums metaphorisch mal so richtig krachen zu lassen: Während sich die Zunge um Kopf und Kragen redet, kocht das Begehren sein eigenes Süppchen. Das Gehirn denkt das eine, der Körper fühlt was anderes, schon steckt man mitten im uralten Dilemma und das Herz droht darüber zu brechen. Wenig verwunderlich gibt es auch diesmal keine schmerzlose Lösung. Tagebuch einer Pariser Affäre ist für Liebhaber:innen und solche, die es werden wollen.

 

Chronique d’une liaison passagère

Frankreich 2022, Regie Emmanuel Mouret

Mit Vincent Macaigne, Sandrine Kiberlain, Georgia Scalliet

Laufzeit 100 Minuten