Valentinsgruß

Was passierte am Valentinstag vor 122 Jahren? „Picnic at Hanging Rock” – auf Mubi

Picnic at Hanging Rock, 1975, Peter Weir

Mit der Romanadaption „Picnic at Hanging Rock / Picknick am Valentinstag” (1975) schuf der Australier Peter Weir eine weichgezeichnete Mystery-Fabel über das Verschwinden und einen bis heute veritablen Trance-Film.

Am Morgen des Valentinstags im Jahr 1900 bereiten sich die Schülerinnen eines viktorianischen Internats in einer kleinen australischen Stadt auf ein Picknick am Hanging Rock vor, einem unheilvollen, vulkanischen Brocken in der Wüste. Verzückt rezitieren sie romantische Gedichte von den Valentinskarten, die sie einander geschrieben haben. Sie ziehen ihre weißen Spitzenkleider an, sie kichern und helfen einander in ihre engen Korsetts. Dann brechen sie auf, aber nicht ohne ein Wort der strengen Schulleiterin Mrs. Appleyard, einer herrischen Matrone, die die Kinder gern an die Wand schnallt, um ihre Körperhaltung zu korrigieren. Sie warnt die Mädchen vor den Gefahren der Natur und erinnert sie daran, dass sie, obwohl es heiß ist, anstandshalber warten müssen, bevor sie ihre Handschuhe ausziehen (junges, weibliches Fleisch muss eingedämmt werden!). Kaum beim Hanging Rock angekommen, fallen die Hüte und Handschuhe, werden sogar die Strümpfe entrollt. Der Felsen will die Mädchen und als sie ihn erklimmen, fallen sie glücklich in seinen Bann. Und dann lösen sich drei von ihnen und die Mathematiklehrerin in Luft auf.

Was mit ihnen passiert ist, werden wir nie erfahren. Der australische Regisseur Peter Weir hat mit Picnic at Hanging Rock (auf Deutsch: Picknick am Valentinstag) mit Anne-Louise Lambert, Jane Vallis, Karen Robson und Vivean Gray den gleichnamigen Roman seiner Landsfrau Joan Lindsay (1967) adaptiert. Und wie Lindsay das Ende der Phantasie ihrer Leser:innen überließ, überließ Weir es der Phantasie seiner Zuseher:innen (viele waren davon irritiert, Weir hat nie wieder einen Film mit offenem Ende gemacht). Bei einer Vorführung des Films in Amerika, erinnerte sich Weir in einem Video-Interview, „schmiss ein Verleiher am Ende seine Kaffeetasse auf die Leinwand, weil er zwei Stunden seines Lebens verschwendet hatte – ein gottverdammtes Rätsel ohne gottverdammte Lösung!“

Aber was für ein Rätsel! Der Grundton von Picnic at Hanging Rock ist das Gefühl, dass uns hier Wahrheiten vorgehalten werden, untermalt von einem Soundtrack aus Vogelgezwitscher und bedrohlichen Panflöten. Das ungelöste Mysterium im Herzen des provokanten Films macht ihn auch zu einem sehr effektiven Horrorstück, das Themen wie Kolonialismus und unterdrückte Sexualität erforscht. Beim Picknick filmt die Kamera ein Mädchen von unten, wie sie eine herzförmige Valentinstorte anschneidet. Sie schwingt das Messer wie in einem Slasher-Film von John Carpenter und schneidet das gesamte Herz in der Mitte sauber durch.

Jede Szene in Picnic at Hanging Rock ist behutsam komponiert, manchmal gar wie ein impressionistisches Gemälde gerahmt. Weir und sein Kameramann Russell Boyd, die sich an den Bildern des Fotojournalisten Henri Cartier-Bresson orientierten, legten hauchdünne Brautschleier über das Kameraobjektiv, um den Weichzeichner des Films zu erzeugen, in denen die Figuren zu leuchten scheinen. Tatsächlich fühlt man sich während des gesamten Films wie in Trance versetzt.

Picnic at Hanging Rock trug dazu bei, die Australien New Wave einzuläuten, und katapultierte Peter Weir in den Olymp Hollywoods. Die Geschichte, die entgegen der Annahmen der meisten Premierenzuseher:innen erfunden war, inspirierte u.a. eine gleichnamige Mini-Serie von Amazon Studios (2018) und ein Meer an Theorien darüber, was an diesem Valentinstag passiert ist. Es entstand ein ganzes Buch mit dem Titel „The Murders at Hanging Rock“, um darauf zu antworten.

Sind die Mädchen ausgerutscht und in eine Schlucht gefallen? Begingen sie Gruppenselbstmord? Wurden sie vergewaltigt? Ermordet? Einige denken, sie sind durch ein Zeitportal geschlüpft oder wurden von Außerirdischen entführt. Andere geben den australischen Landgeistern die Schuld. Alles wild genug, doch das von Joan Lindsay geschriebene, verrückte letzte Kapitel, das aus dem Roman herausgeschnitten und erst nach ihrem Tod veröffentlicht wurde, übertrifft alles: Es beinhaltet eine Zeitschleife und eine Figur, die sich in eine Eidechse verwandelt. Wie auch immer: Was Picnic at Hanging Rock so großartig macht, ist, dass jeder dieser Gründe zum Verschwinden der Mädchen geführt haben könnte. Ich persönlich stelle mir gerne vor, dass sie irgendwo unbeschwert existieren, vielleicht einen Kuchen naschen, vielleicht an sich rumfummeln und in der Sonne schwelgen, frei von Blicken, Erwartungen und Korsetts.

(Flat auf Mubi, günstig auf Prime Video bzw. auf Disc. Der Film ist auch Teil einer bei Koch Media erhältlichen Peter-Weir-Collection.)

 

Picnic at Hanging Rock
Australien 1975, Regie Peter Weir, basierend auf dem Roman von Joan Lindsay
Mit Rachel Roberts, Anne-Louise Lambert, Jane Vallis, Karen Robson, Vivean Gray
Laufzeit 103 Minuten