„Die Magnetischen / Les Magnétiques“: Das Debüt von Vincent Maël Cardona überzeugt mit atmosphärischer Dichte und vermittelt die einst existenzielle Bedeutung von Musik.
Manche Filme zerfallen in zwei Ebenen, auf der einen entfalten sie Magie und Kraft und auf der anderen nicht. Um das Kritikerfazit ausnahmsweise einmal vorwegzunehmen: Die Magnetischen ist so ein Film. Auf einer Ebene eine atmosphärisch dichte Rekonstruktion der sprengenden Kraft von Pop in einer toten Kleinbürgerhölle, die einem hier in Form einer französischen Kleinstadt vor Augen tritt, aber auch, in anderen Farben und mit anderer Architektur, die Gestalt zum Beispiel Bielefelds oder auch die von Deutschlandsberg hätte annehmen können. Die Brüder Philippe (Thimotée Robart) und Jerôme (Joseph Olivennes) suchen offensichtlich nach Fluchtwegen, und da sie noch an ihren Herkunftsort und das Haus ihres unglücklichen Vaters gebunden sind, organisieren sie ihre Fluchtversuche über Medien und (leichte) Drogen.
Die beiden betreiben auf dem Dachboden des väterlichen Hauses einen Piratensender. Die „Magnetischen“ des Titels, das sind zuerst einmal die Tape-Bänder, die der schüchterne Philippe schneidet, neu zusammensetzt und durch die Filter jagt, um sie dann, zusammen mit stilsicher ausgewählter zeitgenössischer Ausbruchversuchsmusik, zu senden, anmoderiert vom expressiven Jerôme. Dieser Teil der Welt des Films ist sehr wunderbar, insbesondere in der ersten halben Stunde. Die Übertragung gelingt, die Erinnerungen und Assoziationen von Zuschauer:innen, die in der Provinz aufgewachsen sind, werden mobilisiert: das ungerichtete, aber intensive Drängen woanders hin, nicht einmal direkt zu etwas, was man mit Glück assoziiert, sondern zuerst einmal nur als Wunsch nach Intensität, in einer Lebenswelt, die abgestorben wirkt. Jung sein heißt, nicht zu wissen was man will, aber das sofort, heißt es an einer Stelle des Films.
Wenn in den ersten Minuten die Clique um Philippe und Jerôme in Zeitlupe im braunen Interieur der lokalen Kneipe zu Joy Divisions „Decades“ tanzt, ist das hauntologisches Kino par excellence: „Here are the young men, the weight on their shoulders / Here are the young men, well where have they been? / We knocked on the doors of Hell’s darker chamber / Pushed to the limit, we dragged ourselves in“. Eine Erinnerung an die Intensitätsversprechen von Popkultur, in diesem Fall der der frühen Achtzigerjahre; Versprechen, die uneingelöst bleiben mussten.
Für diese großen, emotional nachvollziehbaren und dann eben auch zu großen Versprechen findet Die Magnetischen einige sehr schöne Bilder. „Decades“ ist auch deswegen eine sehr gute Wahl für eine Szene, die den Ton des Film setzen soll, weil Ian Curtis‘ Songtext in all seinem Pathos dieses Scheitern schon ankündigt: „Weary inside, now our heart’s lost forever / Can’t replace the fear, or the thrill of the chase / Each ritual showed up the door for our wanderings / Open then shut, then slammed in our face“.
Auch sehr toll und liebenswert an diesem Film: Regisseur Vincent Maël Cardona betreibt in seinem Debüt eine Art Mediengeschichte, die daran erinnert, wie früher Bedeutsamkeit hergestellt wurde. Vinyl, Tapes, Radiosender: Die Magnetischen ist auch eine Liebeserklärung an die Medien der Vergangenheit und an die wirklich existenzielle Bedeutung, die Popmusik – und hier gerade der Pop an den Rändern – einmal gehabt hat.
Auf der zweiten Ebene kriegt der Film einen leider nicht. Man spürt, dass Die Magnetischen von seinem Sujet und seiner Welt, die er wieder zum Leben erwecken und würdigen und feiern will, sehr begeistert ist. Irgendwie müssen diese filmische Welt und das Treiben der Figuren von einem Plot strukturiert und zusammengehalten werden. Und der ist leider ziemlich mau. Philippe und Jerôme verlieben sich beide in Marianne (Marie Colomb), Philippe muss zum Wehrdienst nach West-Berlin (eine schöne Gelegenheit mehr für sorgfältig rekonstruiertes Zeitkolorit). Spätestens mit seiner Abreise zerfasert die Erzählung und bescheidet sich mit der Aneinanderreihung von Standardsituationen: die große Liebeserklärung (hier übers Radio in Form einer etwas überspannten Tape-Collage), der umgeworfene Tisch beim Familienessen, ein tragischer Tod, und dann ist Die Magnetischen auch schon vorbei.
Sehr sehenswert ist der Film aber allemal. Vincent Maël Cardona hat ein ausgeprägtes Gespür für Musik, Farben und Atmosphären, das einen ohne Weiteres durch die anderthalb Stunden trägt. Und man kann ihm für seine nächste Produktion nur ein besseres Drehbuch wünschen.
Die Magnetischen / Les Magnétiques
Frankreich 2019, Regie Vincent Maël Cardona
Mit Thimotée Robart, Marie Colomb, Joseph Olivennes
Laufzeit 98 Minuten