„The Ordinaries“ reiht sich in die ehrwürdige Tradition des Meta-Kinos ein, indem er ganz eigene Regeln für seine Filmfiguren entwickelt – jetzt auch in AT im Kino.
Eigene Welten baut das Kino immer, symbolische, auf der Leinwand. Wenn in ihnen dieselben physikalischen Gesetze gelten, wie in der Welt jenseits der Leinwand, redet man gerne von einem realistischen Film (so lange die Figuren sich nicht allzu unplausibel verhalten zumindest). Wenn zum Beispiel Menschen fliegen und/oder Tiere reden können, spricht man vom phantastischen. Noch ein Wenn: Wenn die phantastische Welt sich auf Genregesetze bezieht, weiß man mit auch nur ein bisschen Medienkompetenz gleich, woran und wo man ist. Vampire beißen, Spiderman hangelt sich an Spinnenfäden durch Straßenschluchten, Jesus kann über Wasser gehen. Und ein letztes: Wenn ein Film aber ganz eigene Regeln entwickelt, muss er sie quasi im Laufen, also während des Erzählens, für Zuschauerin und Zuschauer offenlegen und definieren. Damit die Erzählung bis zu einem Ende kommen kann, müssen die grundlegenden Verhältnisse geklärt sein.
In Sophie Linnenbaums ideenprallem Debütfilm The Ordinaries geschieht beides gleichzeitig, von der ersten bis zur letzten Filmminute. Für irgendetwas muss man sich entscheiden, fangen wir mit der Erzählung, also mit dem Plot an: Paula (Fine Sendel) ist kurz davor, ihre Abschlussprüfung zu machen, und damit von der einen in die nächste, höhere Kaste aufzusteigen. Das geht schief, Paula versucht in der Folge, die Wahrheit über ihren früh verstorbenen Vater zu erfahren, gerät in Kontakt mit einer Szene von Ausgegrenzten und rebelliert am Ende gegen das Unrecht, das diese Welt strukturiert.
So weit, so gut, und noch nicht allzu originell. Eine derartige Geschichte könnte man als Dystopie erzählen, als Familiendrama, vielleicht auch als Musical oder als Komödie. Alles das taucht in Linnenbaums Film auf, immer wieder für Momente. The Ordinaries nämlich wagt einen Sprung in eine umfassende Selbstreferenzialität und reiht sich damit in die ehrwürdige Tradition des Metakinos ein, von H. C. Potters Hellzapoppin (1941) bis Robert Altmans The Player (1992). Die Welt, in der die Figuren hier unterwegs sind, ist eine Filmwelt, nicht in dem Sinne, dass der Film an einem Filmset spielen würde, sondern in dem Sinne, dass die Filmwelt dieses Films von Filmfiguren bevölkert ist. Die Bevölkerung dieser Filmwelt ist in Haupt- und Nebenfiguren unterteilt. Die Hauptfiguren können Emotionen zeigen und komplexe Dialoge sprechen, die Nebenfiguren latschen eher ausdruckslos durch die Szenerie und reden nur matte Sätze daher. Dazu kommen noch die in den Untergrund oder auf die hinteren Bänke im Bus verbannten Outtakes. Und die Schwarzweißen. Und eine Fehlbesetzung (Henning Peker als Hausmädchen Hilde).
Diese Ausgangslage nimmt das Drehbuch von Linnenbaum und Michael Fetter Nathansky als Startrampe für eine schier endlos anmutende Reihe von meist sehr guten Ideen, die sich allesamt auf das Kino-Universum und seine fast 130-jährige Geschichte beziehen: Figuren fangen an zu flackern oder werden Schwarzweiß, eine ist ein Jump Cut, Szenen wiederholen sich aus verschiedenen Perspektiven, Forrest Gump sitzt wieder auf der Bank, die glückliche Upper-Class-Familie singt ständig Musical-Songs und so weiter und so fort.
Das alles ist freilich komplett durch- und überkonstruiert. Macht aber nichts, denn der Spaß, den man mit The Ordinaries haben kann, speist sich genau aus dieser Freude an der Welt- und Ideenkonstruktion. Wenn der sich auf die Zuschauer:innen überträgt, funktioniert das alles ganz wunderbar. Man kann beim Sehen sozusagen spüren, mit welchem Elan beim Schreiben hier die Ideenblitze und Metaebenen-Entwürfe hin und her geflogen sind. Dass der Plot dabei in den Hintergrund rückt, liegt ein wenig in der Natur der Sache. Normalerweise ist die filmische Weltkonstruktion die Form, in der sich die Erzählung entfaltet; hier ist es einmal umgekehrt. Man darf also keine packende Geschichte von The Ordinaries erwarten. Dafür bekommt man ein ausdauerndes Ideenfeuerwerk vorgeführt.
The Ordinaries
Deutschland 2022, Regie Sophie Linnenbaum
Mit Fine Sendel, Jule Böwe, Henning Peker, Sira Faal
Laufzeit 120 Minuten