Mütter, Melodrama und Moral

Pedro Almodóvars Humanismus ist wieder da: „Madres paralelas“, jetzt im Kino.

Madres paralelas, 2021, Pedro Almodóvar

Abwesende Väter, vergessene Tote: Wir empfehlen Pedro Almodóvars „Parallele Mütter“ – sein berührendstes Melodram seit längerer Zeit.

Gleich vorweg das Kritikerurteil, dann ist das schon mal abgehakt: Madres paralelas / Parallele Mütter ist der beste Film von Pedro Almodóvar seit La mala educación und vielleicht sogar der beste seit Sprich mit ihr. Wenn man in diesem Monat nur einmal ins Kino gehen möchte, dann in diesen Film. Außer man war schon bei der Eröffnung der Mostra in Venedig und hat die Begeisterung der anwesenden Filmpresse geteilt.

Parallele Mütter nimmt wie so einige Filme Almodóvars eine Soap-Opera-Prämisse zum Ausgangspunkt: Zwei Frauen, Janis und Ana (Stammschauspielerin Penélope Cruz, dafür Oscar-nominiert, und die ebenso beeindruckende Milena Smit, in ihrer zweiten großen Rolle), bekommen am selben Tag ihr Kind, im selben Krankenhaus. Dann geschieht ein zuerst unbemerkt bleibendes Unglück, dann noch ein Unglück, dann ziehen die beiden zusammen und versuchen, ohne Männer und ohne unterstützende Großeltern ihr Leben als Mütter zu organisieren.

Für die Volten und Verwicklungen in seinen Geschichten wurde Almodóvar hin und wieder kritisiert: Das sei ja alles doch recht unglaubwürdig und wirke arg konstruiert. Das ist falsch. Das eine ist, dass die Schauspielerinnen in diesen Filmen in der Lage sind, so zu spielen, dass man ihnen alles glaubt. Das andere ist, dass der Eindruck der Konstruiertheit gewollt ist und die an Douglas Sirk und Rainer Werner Fassbinder geschulte Zuschauer:in auch nicht weiter schreckt. Denn zur Kunst des Melodrams gehört es, das, was konstruiert wirkt, so zu erzählen, dass es wahr und wirklich erscheint. Um so Punkte zu berühren, die eine Erzählung, die alles durchweg plausibel haben möchte, eben auch nicht ohne Weiteres berühren könnte.

Milena Smit, Penélope Cruz

Mit dem Paar aus Parallele Mütter fügt Pedro Almodóvar seinem Werk eine weitere berührende Allianz von Frauen hinzu. Am besten funktioniert der Film vielleicht im Dreierpack, zusammen mit Alles über meine Mutter und Volver: Filme, in denen die männlichen Figuren nur eine Rolle am Rand spielen. Der Vater von Janis’ Kind ist ein Archäologe (Israel Elejalde), den Janis um Unterstützung bei ihrem Projekt bittet, das anonyme Grab ihres Urgroßvaters zu finden und auszuheben. Er empfiehlt der werdenden Mutter erst einmal eine Abtreibung und würde die Affäre gerne weiterführen. Dann gerät dieser Strang in den Hintergrund, bis zum Ende des Films, an dem alle sich vor den Ermordeten versammeln. Und es gehört zu den großen Qualitäten von Almodóvars Filmen, dass man auch die Figuren, die von anderen Regisseur:innen für das Publikum zielsicher als Arschlöcher wegsortiert würden, verstehen kann. Die Liebe zu den Menschen, die er zeigt, umfasst hier bestimmt nicht alle. Aber doch nahezu alle.

Wie überhaupt das Melodramatische in diesen Weltkonstruktionen Moralismus und Moralisieren ausschließt. Gleichwohl stellen sich den Figuren (und damit auch dem Publikum), im Angesicht von Extremerfahrungen und emotionalen Ausnahmezuständen, moralische Fragen und das zuhauf. Diese aber werden bei Almodóvar nicht zur Erhebung und Erbauung des Zuschauers beantwortet, sondern als Aufgaben präsentiert, die das Leben einem nun mal stellt, mit offenem Ausgang. Man kann das in einer Besprechung schlecht konkretisieren, ohne zu spoilern. Vielleicht genügt es auch, zu vermuten, dass hier – in dieser Liebe zu den Figuren und dem Wissen um die Kompliziertheit von Beziehungen aller Art, die sich moralistisch nicht einmal ansatzweise fassen lässt – der Kern des tiefen Humanismus liegt, der diesen Filmen innewohnt.

Figuren, die man eindeutig und ohne Frage verurteilen kann, tauchen in Parallele Mütter nur als Erinnerung oder auf Fotos auf: der Vergewaltiger, der der Vater des einen der beiden Kinder ist; die Falangisten, die Janis‘ Urgroßvater erschossen und in einem Massengrab verscharrt haben. Das Grab liegt in einem Feld vor dem Dorf, in dem Janis aufgewachsen ist. Am Ende wird es ausgehoben, damit endet dieser Film. Mit einem Bild, das daran erinnert, dass alles, was uns hier gezeigt wird, in einer Gesellschaft  geschieht, in der die Opfer des Faschismus nie wirklich begraben worden sind. So lange die Leichen nicht ausgebuddelt worden sind, ist der Krieg nicht vorbei, sagt Janis. Und empfiehlt Ana, die das alles zuerst nicht interessiert, dass sie sich einmal darüber informieren soll, was ihre Familie unter Franco und während des Bürgerkriegs gemacht hat.

Pedro Almodóvar erschafft in seinen Filmen im Verbund mit seinen Schauspielerinnen immer wieder glaubwürdige Frauenfiguren, die weder Heldinnen noch Untertaninnen sind. Vielleicht wirken seine Filme auch nur deswegen für viele im schlechten Sinne konstruiert, weil eine solche Position im Kino ansonsten nur selten zu sehen ist. Entweder ist man das eine, oder man ist das andere. Parallele Mütter ist auch ein Film über das Erwachsenwerden, das hier verbunden ist mit der Fähigkeit, die eigenen Kinder zu lieben, und der Fähigkeit, Verantwortung für sie zu übernehmen. Und es ist verbunden mit dem Wissen um die Gewalt des eigenen Landes, der eigenen Gesellschaft, um die in der Erde verscharrten Toten. Wer sich vor all dem, der Liebe, der Verantwortung und der Erkenntnis drückt, bleibt ewig Sohn, Tochter oder Untertan.

 

Madres paralelas / Parallele Mütter
Spanien 2021, Regie & Drehbuch Pedro Almodóvar
Mit Penélope Cruz, Milena Smit, Israel Elejalde, Aitana Sánchez-Gijón
Laufzeit 123 Minuten