Motorölmensch

Goldpalmengewinner „Titane“ in Zweitsichtung. Jetzt als VoD / auf Disc.

Titane, 2021, Julia Ducournau

Was bleibt vom Hype um Julia Ducournaus Sensationsfilm „Titane“ auf den zweiten Blick?

Manche Filme werden besser, wenn man sie zweimal sieht. Andere nicht. Der Goldene-Palme-Gewinner Titane ist in dieser Hinsicht interessant. Zum einen gab es nach der Premiere in Cannes um Julia Ducournaus zweiten Film einen ziemlichen Hype, zum anderen baut dieses nicht zuletzt sensationalistische Teil auf eine Reihung von What-the-fuck?!-Momenten: Die Protagonist:in Alexia/Adrien (Agathe Rousselle) hat Sex nicht nur in, sondern auch mit einem Cadillac, schlachtet übergriffige Männer, aber auch Unschuldige und dann auch noch die eigenen Eltern ab und unternimmt einen Abtreibungsversuch mit ihrer Haarnadel. Und das ist nur der erste Akt. Im zweiten und dritten geht es vergleichsweise ruhiger zu, aber wir bekommen immerhin eine mit Faust, Abbindeband und Waschbeckenrand vorgenommene Transformation von Alexia zu Adrien, Motorölausfluss und die Geburt eines Mensch/Maschine-Hybrids vorgeführt.

Die durch die VoD/Disc-Veröffentlichung möglich gewordene Zweitsichtung lohnt sich. „Alter, wie krass ist das denn?“-Reaktionen sind ja in der Regel eher kurzfristige Vergnügen. Was also bleibt übrig vom ersten Eindruck, was kommt dazu?

Wie bei vielen Filmen, die an der Oberfläche auf Provokation setzen, war die Rezeption gespalten. Ein Vorwurf: Der Film setze auf transgressiven Gestus, ginge letzten Endes aber auf Nummer sicher, indem er gängige Themen, die man bearbeiten kann, wenn man eben Subversion suggerieren will, quasi gewissenhaft abarbeitet – Auflösung von Geschlechtergrenzen, Elternmord, Sex und Gewalt und von beidem viel. Zudem, auch oft zu hören, sei der Film gerade in seinen Exzess-Szenen unfreiwillig komisch. Positiv gestimmte Kritikerinnen und Kritiker wiederum sahen in Titane ein Werk, das sich mit seinen Themen (vor allem mit seinem Begriff von Identitäts-Neuerschaffung) am Puls der Zeit befände und eben dort ganz vorbildhaft randalieren würde. Ein dezidiert queeres filmisches Gebilde. Das nicht zuletzt die Trennung von Genre- und Autorenfilm zu überwinden versucht.

Die Protagonistin malträtiert und demoliert ihren Körper, um sich auf ihrer Flucht als Mann dem Zugriff der Polizei zu entziehen. Der Sex mit der Maschine ist als lustvolles Einreißen der Grenze zwischen Mensch und Maschine inszeniert. Immer wieder wird die Zerstörung der Körpergrenzen ihrer Opfer mittels Haarnadel in Szene gesetzt. Alexias Körper hingegen bricht von innen auf, Motoröl tritt aus. Und mit den zwei Vaterfiguren in diesem Film schwingt unterschwellig immer wieder die Missbrauchsdrohung mit. Titane ist insbesondere in der ersten Hälfte eine Aneinanderreihung von Grenzüberschreitungsinszenierungen.

Aber was bedeutet die in vielen Texten, den positiv wie den negativ gestimmten, vielbeschworene „Provokation“ im Falle eines Films, über den sich heute, anders als zum Beispiel über Pasolinis Salò oder Der letzte Tango von Paris, niemand mehr aufregt? Sex mit Autos zum Beispiel gab es schon in David Cronenbergs ansonsten sehr andersartigem Film Crash, der lief auch in Cannes, 1996. Das ist ja kein Manko, die Zeiten sind halt andere, und die einzigen, die im Zusammenhang mit dem Kino noch von Transgression und Provokation sprechen, fühlen sich heute nicht mehr provoziert, sondern verwenden beide Begriffe als Qualitätsmerkmale. Wenn man sich selbst nicht angegriffen fühlt, sollte man aber vielleicht selbst nicht so tun, als wäre das, was man da abfeiert, für andere zu hart.

Vincent Lindon

Erst bei der zweiten Sichtung ist zumindest mir klargeworden, dass Titane weniger über seine Schockmomente und etwaige Provokationsversuche, stattdessen aber ganz wunderbar als Atmosphärenkino funktioniert. Andere waren da vielleicht schneller, und das schließt einander natürlich auch nicht aus, sondern greift bei jedem Sehen ineinander. Aber beim Wiedersehen überwiegt der zweite, eigentlich eindrucksvollere Strang. Der Plot entspinnt sich in den Maßgaben einer Alptraumlogik und nicht nach denen von Genrekonventionen. Die unheimliche Kälte dieser Bilder ist erst zu mir durchgedrungen, nachdem die Körperhorrorbilder in ihrer affektiven Wirkung eher vorbeirauschten, weil was beim ersten Mal krass wirkt, beim zweiten naturgemäß erwartbar wird. Ohne den Überbau der Transgressionsdiskurse entfaltet sich erst der stille, sich langsam aufbauende Druck dieser Bilder, der Zuschauerin und Zuschauer noch einmal anders berührt als der schockhaft inszenierte Einbruch der Gewalt.

(Als VoD, DVD oder Blu-ray bei Koch Films bzw. gegen moderates Entgelt bei diversen Streamern verfügbar.)

 

Titane
Frankreich/Belgien 2021, Regie & Drehbuch Julia Ducournau
Mit Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Garance Marillier, Bertrand Bonello
Laufzeit 108 Minuten