Mafia in echt

Die liebevollste Mafia-Familie aller Zeiten: „Chiara“ von Jonas Carpignano – im Kino

Chiara, Swamy Rotolo
A Chiara, 2021, Jonas Carpignano

„A Chiara“ erinnert an die frühen Filme der Dardennes und steht als Coming-of-Age-Mafiafilm in der europäischen Filmlandschaft ziemlich allein da.

Nur an einer Stelle wird Jonas Carpignanos Film Chiara reflexiv. Warum wohl Raffael, der Renaissance-Maler, so berühmt geworden sei, fragt ihr Cousin die Titelheldin. Und gibt dann selbst die Antwort: „Weil der die Dinge auf natürliche Weise gemalt hat. Er hat gemalt, was vor ihm lag.“

Carpignano hält es in dem dritten Teil seiner Trilogie über das Leben in der kleinen italienischen Hafenstadt Gioia Tauro ganz ähnlich. Er zeichnet auf, was vor ihm liegt, und die Bilder von Chiara wirken dem ersten Eindruck nach schlicht dokumentarisch. Es verhält sich mit diesem Film in dieser Hinsicht grob wie mit den frühen Filmen der Dardenne-Brüder. Die Bilder erwecken den Eindruck, man würde ein dokumentarisches Abbild des Geschehens bekommen. Schaut man aber genauer hin, wird klar, dass sich hinter Handkamera-Ästhetik und einer überhaupt sehr spartanischen Bild- und Tongestaltung ein präzis durchkomponierter Film verbirgt. Ein weiterer Beleg, wie inszenatorisch komplex und eben genau man als Filmemacher:in vorgehen muss, wenn man so etwas wie einen Authentizitätseindruck hinbekommen will.

Der kleine Exkurs über den Realismus Raffaels findet in einem Auto statt, das in einer Polizeisperre wartet. Die Carabinieri suchen Chiaras Vater Claudio (Claudio Rotolo), der Mitglied der kalabrischen ‚Ndrangheta sein soll. Zu diesem Zeitpunkt hat das fünfzehnjährige Mädchen selbst bereits ermittelt und ist auf der Flucht, nicht vor der Polizei, aber vor den Behörden, die sie aus ihrer Familie herausnehmen wollen. Jonas Carpignanos Filme handeln von der Stadt, in der sie spielen, von den Menschen an den Rändern der Stadtgesellschaft; vor allem aber ist Chiara ein Coming-of-Age-Film, der um den Moment kreist, in dem Kinder realisieren, dass die Eltern Geheimnisse haben, die sie in einem anderen, dunkleren Licht erscheinen lassen.

familie in chiara

Diese Verdunkelung vollziehen die Bilder nach. Nachdem der Vater die Party zum 18. Geburtstag von Chiaras Schwester (Grecia Rotolo) hastig mit einer Gruppe Cousins verlassen hat und nicht mehr auftaucht (der am Werk Martin Scorseses geschulte Zuschauer ahnt schon, was da im Schwange ist), sucht Chiara nach Wahrheit in ihrer Familie. Neben vielem anderen ist Carpignano das wohl freundlichste und liebevollste Porträt einer Mafia-Familie gelungen, was man in der Kinogeschichte finden kann. In der ersten halben Stunde nimmt der Film sich ausgiebig Zeit, das familiäre Miteinander, zu Hause und auf der Feier, zu zeigen. Die zentrale Qualität von Jonas Carpignanos filmischen Verfahren entfaltet sich hier zur vollen Blüte: sogenannte Laienschauspieler:innen so in Szene zu setzen, dass es nicht gespielt wirkt, sondern wie eine Aufzeichnung von etwas, das eh stattfinden würde, auch ohne Regisseur und Kamera. Dass viele der Schauspielerinnen und Schauspieler miteinander verwandt sind, verstärkt den Eindruck des „Echten“ nicht nur, sondern lässt alles noch einmal intensiver wirken; die Szene, in der Claudio den Toast für seine Tochter nicht sprechen will und dann doch etwas sagt, ist die berührendste Dokumentation väterlicher Liebe, die ich seit langem im Kino gesehen habe.

Aber wie gesagt, es wird dunkel. Chiaras Schwester weiß mehr als sie sagt, die Cousins schweigen ebenfalls. In dem Teil des Films, in dem die Tochter den verlorenen Vater sucht, wird die Leinwand weitgehend dunkel. Mit einer Taschenlampe durchleuchtet Chiara einen geheimen Bunker, den sie unter dem Haus der Familie findet. Und wird von da an ansatzweise delinquent, schwänzt die Schule, verletzt eine Mitschülerin. Erst am Ende werden die Bilder wieder heller. Bis dahin dominieren Schwarz und Grau.

Die Sozialarbeiterin, die das Mädchen aus der Familie nimmt und in eine Pflegefamilie stecken will, kommt – mitsamt dem Jugendgericht, das Kinder aus Mafia-Familien wegnimmt, um die Eltern zu bestrafen – schlechter weg als die Mitglieder der Familie. Was allerdings auch nur deswegen reibungslos formuliert, weil die Bilder die Gewalt der Mafia komplett aussparen (die einzigen Schussgeräusche, die zu hören sind, stellen sich dann schnell als Feuerwerkgeboller heraus). Trotzdem hat das hier nichts mit Verharmlosung zu tun, es geschieht etwas spürbar anders. Chiara nimmt durchgängig und konsequent die Perspektive ihrer Hauptfigur ein, und in diesem Blick ist nicht die Gewalt das Problem, sondern das Geheimnis und seine Konsequenzen. Auch in dieser Hinsicht, als Mafia-Genrefilm, steht Chiara sehr singulär in der Landschaft. Vor allem aber ist er ein unaufgeregter, klarsichtiger Coming-of-Age-Film, der wie nebenbei einen ästhetisch sehr komplexen, auch formal beeindruckenden filmischen Realismus entwickelt.

 

Chiara / A Chiara
Italien 2021, Regie Jonas Carpignano
Mit Swamy Rotolo, Claudio Rotolo, Grecia Rotolo
Laufzeit 121 Minuten