Luft anhalten!

Die aktionistische Musical-Oper „Annette“ von Leos Carax

Adam Driver und Marion Cotillard in einer schauspielerischen und musikalischen Tour de Force: „Annette“ ist ein opernhaft überhöhtes Autorenfilm-Musical von Leos Carax und den Sparks. Es vermag nicht weniger als den Glauben an die Innovationskraft des Kinos zu stärken.

Bevor der Vorhang sich hebt, fordert eine Stimme aus dem Off uns auf, alle kommentierenden Störgeräusche zu unterlassen. Das ist verständlich im Kino; keine:r mag es, wenn die Nachbarin zu laut lacht, der Vordermann leise schnarcht, hinten jemand hörbar gähnt oder gar geklatscht respektive gebuht wird, und immer zur Unzeit. Dann aber erteilt diese Stimme den unmissverständlichen Befehl, JETZT noch EIN MAL tief einzuatmen, ein Mal noch, und dann erst wieder, wenn alles vorbei ist. Vor uns liegen 140 Minuten.

Jetzt halt mal die Luft an!

Man möchte das mitunter gern auch diesem Film zurufen. Nicht nur seiner Hauptfigur, dem seltsamen Komiker. Nicht nur seinem Schöpfer, dem seltsamen Regisseur. Sondern eben auch dem Film selbst, der unbotmäßig, eigensinnig, wild entschlossen, spontaneistisch, aktionistisch, wie entfesselt Bilder und Szenen auf die Leinwand und Melodien und Songs in den Kinosaal wirft, die sind von derart singulärer Natur und Gewagtheit – dass man gerne nach Atem ringen würde. Aber das ist ja untersagt.

Annette also; so heißt das in Rede stehende Werk und ist der neue Streich des französischen Auteur-Mavericks Leos Carax. Carax schrieb das Drehbuch gemeinsam mit Ron und Russell Mael, auch bekannt als Sparks, die wiederum die Musik komponiert haben; in Cannes, wo der Film uraufgeführt wurde, erhielt Carax sodann den Preis für die Beste Regie und die Mael-Brüder den für die Beste Musik.

Adam Driver

Erzählt wird die Geschichte eines Komikers in der Tradition von Andy Kaufman oder zutreffender noch: im Gefolge von dessen bösartigem Nachfahren Gregg Turkington. Henry McHenry, dies der Name des fiesen Komödianten, dessen fortgeschritten heimtückischer Stand-up-Act „The Ape of God“ dem Humoristischen die Meta-Ebenen (ja, Plural!) einzieht, verliebt sich in die Opernsängerin Ann Defrasnoux. Mithin in die Vertreterin einer Zunft, die das Pathos ins Unendliche zu steigern vermag und das klangvolle Sterben zur Kunstform erhoben hat. Und möglicherweise ist die Oper ja sogar die Kunst der höchsten Abstraktion.

Die Figuren Henry und Ann treffen aufeinander in einem Musical, das uns den Atem raubt. In einem Genre, das bekanntermaßen wenig Affinität zur meist schnöden Wirklichkeit hat. Eher im Gegenteil sind der Realismus und die bevorzugten Ausdrucksmittel des Musicals, nämlich Gesang und Tanz, einander wesensfremd. Wesensfremd? Will man so weit gehen? Immerhin schickt das verlotterte Schlüsselkind der Familie der musikalisch-theatralen Darbietungen mit Annette sich an, in formaler wie inhaltlicher Hinsicht opernhafte Dimensionen sogar noch zu übertreffen. Und möglicherweise müssen wir in der Historie, also der Theatergeschichte sogar noch weiter zurück.

Marion Cotillard

Henry und Ann: zwei Abstraktionskünstler in einer künstlerischen Form der Abstraktion, da darf es einen dann auch nicht wundern, dass das Kind, das dieser Vereinigung entsprießt, ein Marionettenwesen ist; neben dem Automaten (heute: Roboter, morgen: Android) ist die Marionette eine der unheimlichsten Abstraktionen des Menschlichen. Titelheldin Annette – Baby, Kleinkind, kleines Mädchen Annette – hat Scharniere anstelle von Gelenken und bewegt sich demzufolge etwas ungelenk durchs Leben. Niemand hinterfragt ihre Stofflichkeit – irgendwo zwischen Holz und Fleisch und Blut –, schließlich sind wir hier in einem Musical, in dem vieles, vielleicht sogar alles möglich ist. Und halten immer noch den Atem an.

Der uns nun ohnehin endgültig wegbleiben würde, insofern Annette, wann immer sie eines Nachthimmels – es kann auch der auf einem Lampenschirm sein – Seelen berührend zu singen beginnt, sodann erhebt sie sich in die Lüfte. Ein Wunder! Mit einem Wunder lässt sich Geld verdienen; so nimmt die Tragödie ihren Lauf.

In seiner Besprechung des Films für die Zeitschrift Film Comment bricht Kritiker Nathan Lee den Plot von Annette herunter auf eine Art Spitze des Eisbergs: „A showbiz love story with a fairy-tale twist about a moody jerk, a woman wronged, and the child caught between them.“ Er schreibt weiter: „Annette might be understood as neither a meta-musical nor an anti-musical but rather a deep dive into the irreducible strangeness of the musical form – of cinema tout court – that we accept through habit and convention.“

Was Carax und die Sparks mit Annette unterfangen, ist nichts weniger als uns einen Blick werfen zu lassen in die innere Mechanik der Kunstform Kino. Sie ist uralt: Illusion und Manipulation, Furcht und Mitleid, Katharsis.

So erschließen sich denn endlich auch die Anfangs- und die Schluss-Szene des Films, in denen das Schauspielensemble und die Musikant:innen jeweils ihr Publikum adressieren. Wie das fahrende Volk zu Shakespeares Zeiten, wie der Chor in den Amphitheatern der Antike. Und Zack! Noch eine Meta-Ebene!

Doch bewahren Sie Ruhe, atmen Sie ein … und aus … und ein … und los!

 

Annette
Frankreich/USA 2021, Regie Leos Carax Drehbuch Leos Carax, Ron & Russell Mael
Mit
Adam Driver, Marion Cotillard, Simon Helberg, Devyn McDowell
Laufzeit 140 Minuten