Komplexes Körperkino

Großartig: „Wo in Paris die Sonne aufgeht“, ein Liebesfilm von Jacques Audiard.

Noémie Merlant, Makita Samba in Les Olympiades

In „Les Olympiades, Paris 13e“ sieht man komplexen Figuren beim Leben zu und kann sie in jedem Moment verstehen. Das Drehbuch schrieb Audiard gemeinsam mit zwei der zurzeit interessantesten Regisseurinnen Frankreichs.

Vier Menschen in der Großstadt, in Paris, das bei Regisseur Jacques Audiard in sehr präsentem Schwarzweiß erscheint. Der Originaltitel hebt den Ort, an dem das alles spielt, noch stärker hervor als der deutsche, Wo in Paris die Sonne aufgeht. Die titelgebenden Les Olympiades  sind ein Neubaublock im 13. Arrondissement. Und an der Präsenz dieses Ortes, der in der Eröffnungsmontage schön und schwarz in Szene gesetzt wird, kann man vielleicht zeigen, was diesen Liebesfilm (also diesen Film über verschiedene Versuche zu lieben) so einzigartig macht. Paris ist hier keine romantisch-pittoreske Kulisse, der Neubaublock aber auch kein filmischer Raum, in dem sich sozial bedingtes zwischenmenschliches Elend entfalten würde. Zwischen den Stühlen sozusagen, was die geläufigen Modi von Liebesdrama oder -komödie betrifft.

Unter dieser Voraussetzung entfalten die miteinander verwobenen Geschichten von Menschen, die in Les Olympiades verschiedene Aggregatzustände menschlicher Beziehungen durchlaufen, eine immersive filmische Kraft, die alle Filme Audiards abstrahlen, egal in welchem Genre er sich bewegt. Nora (Noémie Merlant), Émilie (Lucie Zhang), Camille (Makita Samba) und Amber (Jehnny Beth) treffen aufeinander und gehen wieder auseinander, in verschiedenen Zusammensetzungen als, nacheinander, Fuckbuddy, Liebespaar, Kollegin und Kollege und Freunde.

les olympiades
Wo in Paris die Sonne aufgeht, 2021, Jacques Audiard

Erzählt wird unheimlich viel, in einander überlagernden Schichten, und trotzdem fühlt dieser Film sich leicht an. Unter anderem interessiert er sich dafür, wie Menschen von einer Beziehungsweise in die andere wechseln und für die Frage, ob sich die eine von der anderen klar unterscheiden lässt. Eher nein: Weil die jeweils zwei Menschen, die sich hier vorübergehend miteinander verbinden, unterschiedliche Geschichten, Wünsche und Ängste mitbringen, ist die Art und Weise, in der man – als Freund, als Kollege, als Fuckbuddy oder als Liebender – für den anderen da ist, in konstantem Fluss.

Alles geschieht weitgehend unaufgeregt, auch wenn Schlimmes passiert: Nora wird von der Uni weggemobbt, die Großmutter von Émilie stirbt. Trotzdem ist die Atmosphäre nicht lakonisch oder gar düster, sondern trotz Schwarzweiß und Wohnblock-Setting von einer ambivalenten Leichtigkeit. Das Drehbuch (geschrieben von Audiard, gemeinsam mit Léa Mysius und Céline Sciamma, zwei der interessantesten französischen Regisseurinnen zurzeit) erzählt so von den Menschen, dass man sie auch in ihren unvorteilhaften Momenten zu jedem Zeitpunkt verstehen kann. Dazu kommt, dass Audiard seine filmischen Mittel so souverän beherrscht wie nur wenige andere Filmemacher, ohne dass seine Filme deswegen perfektionistisch und deswegen distanziert wirken würden.

Audiard kann komplexe Geschichten über Menschen so erzählen, als würden sie sich wie von selbst entfalten. Diese Gleichzeitigkeit von Figuren-Komplexität, filmischer Perfektion und dem Eindruck, man würde hier sozusagen dem Leben selbst zuschauen, ist selten und schwer auf den Begriff zu bringen. Handys und digitale Kanäle zum Beispiel spielen eine große Rolle in diesem Film, wenn es darum geht, auf welche Weise die Figuren ihre ständig in Bewegung bleibenden Nähe- und Distanzverhältnisse ausloten. Wo andere Filmschaffende die Kommunikation über den Bildschirm als Metapher – zum Beispiel für Entfremdung – nehmen, ist auch die digitale Kommunikation bei Audiard, der immerhin auf die 70 zugeht, während seine Filme völlig alterslos wirken, rundum selbstverständlich. Und, wie seine Figuren auch, vielschichtig: Man kann mit ihr einander näherkommen, man kann sich voneinander entfernen, man kann sie als Instrument verwenden, um jemand anderen kaputtzumachen.

Gewalt spielt in Les Olympiades nur noch eine Nebenrolle, anders als in den übrigen Filmen Audiards. Sehr körperlich aber ist auch dieser Audiard-Film wieder. Gerhard Midding hat die schöne These formuliert, dass in diesem Kino „die Körper viel früher als der Verstand“ begreifen, „in welche Richtung die Seelen gehen“ (hier seine Kritik zu Les Olympiades). Die Körper, die früher Bescheid wissen als der Rest der Menschen, sind weder Helden- noch Monsterkörper. Alles, was hier passiert, wird so gezeigt, dass die Frage nach Gut und Böse nicht die erste ist. So dass man als Zuschauer:in gar nicht erst auf die Idee kommt, man sei irgendwie besser als die Figuren auf der Leinwand. Oder gar schlechter.

 

Les Olympiades / Wo in Paris die Sonne aufgeht
Frankreich 2021, Regie Jacques Audiard Drehbuch Audiard, Léa Mysius, Céline Sciamma
Mit Noémie Merlant, Makita Samba, Lucie Zhang, Jehnny Beth
Laufzeit 105 Minuten