Hinter Glas

Distanzierter Blick auf das Unerträgliche: „Die Hand Gottes“

In Paolo Sorrentinos Kino geht es nicht darum, dass wir Emotionen aus zweiter Hand erleben, sondern dass wir die Gefühle der Figuren und ihr Schicksal gleichsam abstrakt wahrnehmen. Daraus speist sich die Atmosphäre dieser Filme, und das gilt besonders für „Die Hand Gottes“.

Paolo Sorrentinos Filme sind ganz wundervoll, und ihre Bilder, eins schöner als das andere, wirken wie hinter Glas. Man kommt an die Figuren in Die große Schönheit und Ewige Jugend irgendwie nicht heran, das gleiche gilt für die Komödie Il Divo – Der Göttliche (nur fiel es da noch nicht so auf, weil es halt eine Komödie ist). Dabei geschieht vor allem in Ewige Jugend Tieftrauriges, und eigentlich müsste man mitfühlen. Allein: Die Bilder, die Musik, der Schnittrhythmus und die Ästhetisierung der Körper und Gesichter bilden sozusagen eine Glasbarriere zwischen Zuschauer:in und den Figuren, die immer wieder in Distanz gerückt werden. Auch wenn regulärerweise eigentlich die großen Emotionen beschworen werden müssten.

Am besten ist, man empfindet das gar nicht erst als Begrenzung oder Wahrnehmungshindernis. Sorrentinos Filme sind anders gedacht. Durch das Glas hindurch kann man die Figuren genauer ansehen, als wenn man, wie sonst idealerweise im Erzählkino, emotional und empathisch involviert wäre. Nur weinen muss man dann halt nicht, wenn eine von ihnen aus dem Fenster springt oder wir erfahren, dass die Frau der anderen seit Jahren in einer Anstalt vor sich hinvegetiert.

Filippo Scotti in Die Hand Gottes

Sorrentinos neuer Film Die Hand Gottes / È stata la mano di Dio ist sein erster dezidiert autobiografischer. Dem jungen Fabietto Schisa (Filippo Scotti) widerfährt, was dem jungen Sorrentino widerfahren ist. Seine Eltern sterben bei einem Unfall, eine Gasvergiftung im Ferienhaus. Das geschieht etwa in der Mitte des Films, und bis dahin ist er eine filmische Liebeserklärung an die eigene Familie wie auch eine Reflexion über den komplizierten und im Nachhinein auch von den Beteiligten nicht mehr rekonstruierbaren Zusammenhang (oder auch das Mischverhältnis) von Geschehenem, Erinnertem und dem Versuch, vom einen wie vom anderen zu erzählen. „Das ist eine sehr, sehr schmerzhafte Geschichte, die Erinnerung daran ist hart“, hat Paolo Sorrentino erklärt. „Ja – am Anfang, da gab es fröhliche Phasen. Leider war das nur ein kurzer Teil meines Lebens.“ Vom Tod der Eltern an ist Die Hand Gottes auch eine Art Exerzitium, nur dass sich das Leiden, wie gesagt, nicht auf den Zuschauer überträgt.

Das Neapel in diesem Film erstrahlt in einem dunklen Glanz, keiner sonst kann zurzeit die Schönheit italienischer Städte (oder Schweizer Kurkliniken) in derart bezaubernden Bildern erfassen wie Sorrentino. Das Unternehmen, den fast durchweg skurrilen Verwandten ein filmisches Denkmal zu setzen und sie in ihrer unfreiwilligen Komik zu zeigen, ist geglückt. Die Kraft dieses Films liegt in der Entfaltung einer immersiven Atmosphäre, hinter der die Geschichte zurücktritt und sich in einer Folge von einzelnen Sequenzen auflöst, die auch als einzelne Kurzfilme funktionieren würden und sich dann natürlich doch wieder aufeinander beziehen.

die hand gottes, È stata la mano di Dio

Die Erinnerung, die hier filmisch (re)konstruiert wird, ist episodisch strukturiert. In ihrem Zentrum steht der Tod der Eltern, und wie hier jemand ihr Sterben re-inszeniert, so wie er es sich vorstellt (das zumindest suggeriert der Film), mit einem Kamerablick, der von der Liebe des zurückgelassenen Sohnes zeugt, ist ein für mich eigentlich unfassbarer Vorgang. Man erkennt diese Liebe in der Art und Weise, in der diese Bilder gebaut sind, und kann sie dann eben doch nicht empathisch nachvollziehen, weil es in Sorrentinos Kino nicht darum geht, dass wir Emotionen aus zweiter Hand erleben, sondern dass wir die Gefühle der Figuren und ihr Schicksal gleichsam abstrakt wahr- und zur Kenntnis nehmen.

Aus dieser Gleichzeitigkeit von Distanz und Schönheit von allem, was in diesen Filmen zu sehen ist, auch dem Schrecklichen, speist sich deren Atmosphäre. Es wird diese spezifische Affektmodulation und -kontrolle sein, mit der sich Paolo Sorrentino oft den Vorwurf eingehandelt hat, seine Filme seien zwar sehr schön anzusehen, aber irgendwie leer. Dabei ist sie ihre ureigene Qualität. Durch das Glas hindurch wird ein respektvoll-distanzierter Blick auf das Unerträgliche ermöglicht: Dies waren meine Eltern, sie sind vor der Zeit gestorben, so stelle ich mir das vor – aber es ist mein Bild und nicht eures.

(In ausgewählten Kinos und ab 15.12. auf Netflix)

 

È stata la mano di Dio / Die Hand Gottes
Italien 2021, Regie Paolo Sorrentino
Mit
Filippo Scotti, Toni Servillo, Teresa Saponangelo, Marlon Joubert, Luisa Ranieri, Renato Carpentieri, Massimiliano Gallo
Laufzeit 130 Minuten