Geist aus der Flasche

Stupender Animationsfilm: „Wo ist Anne Frank“ – jetzt als DVD und digital

folman, wo ist anne frank
Wo ist Anne Frank, 2021, Ari Folman

„Wo ist Anne Frank“: Ari Folman arbeitet gegen die Musealisierung des Holocaust, indem er Anne Franks Tagebuch lebendig werden lässt.

Was wäre, wenn Kitty antwortet? Kitty, das ist der Name, den Anne Frank ihrem Tagebuch gegeben hat. Beziehungsweise der Name der imaginären Freundin, an die Anne Frank ihre Einträge in diesem Tagebuch richtete. Wer Anne Frank war, kann als bekannt vorausgesetzt werden. Oder etwa nicht?

Mit dem Sterben der Zeitzeug:innen – die wenigen noch Überlebenden des Holocaust gehen auf die Hundert zu – stellt sich die Frage nach der Überlieferung der historischen Wahrheit auf neue Weise. Wie die Erinnerung an die Schrecken des Nationalsozialismus für nachwachsende Generationen lebendig halten, wenn die Träger:innen dieser Erinnerung nicht mehr am Leben sind? Zumal Tonlage und Stil immer rascher wechselnden Moden unterworfen sind und, was gestern noch bewegend zu lesen war, heute schon altbacken klingen kann. Anne Franks Tagebuch umfasst die Zeit vom 12. Juni 1942 bis zum 1. August 1944, hat also achtzig Jahre auf dem Buckel. Seinem Status als Werk der Weltliteratur sowie bedeutendes historisches Dokument zum Trotz läuft es Gefahr, an Breitenwirkung zu verlieren. Erinnern Sie sich noch daran, welcher Nimbus die Schullektüre umgab? Wohl wenig wurde so ungern gelesen wie das, was gelesen werden musste. Und schließlich ist auch der obligatorische Besuch von Schulklassen in KZ-Gedenkstätten kein Garant für Bewusstseins- und Herzensbildung.

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In diesem Kontext nun ist Ari Folmans Animationsfilm Wo ist Anne Frank zu sehen. Nämlich als Versuch, das Mädchen und sein Schicksal aus den tradierten und nahezu verkrusteten Rezeptionsgewohnheiten zu befreien. Sie wieder lebendig(er) werden zu lassen, ihr eine moderne(re) Anmutung zu verleihen, die Relevanz ihres Vermächtnisses im und für das Heute sichtbar zu machen. Und so erwacht Kitty im Amsterdam der Gegenwart zum Leben; wie ein Geist aus der Flasche steigt sie auf aus dem Tagebuch, das im Anne-Frank-Haus in der Prinsengracht ausgestellt ist, in einer zauberischen Szene materialisiert sie sich aus der Tinte, aus der Schrift, aus den hinterlassenen Worten – sie möchte die Zwiesprache mit ihrer Freundin/Autorin fortsetzen und findet sie nicht (mehr), also beginnt sie nach Anne und ihrer Familie zu suchen.

Wo ist Anne Frank vollzieht sich in der Folge auf zwei zeitlichen Ebenen: Die eine Erzählung handelt von Annes Zeit im Versteck; sie wird vermittels Kittys Lektüre des Tagebuchs wachgerufen und ist eine getreuliche Übersetzung dessen, was uns überliefert ist. Die andere schildert Kittys Zeit unterwegs in Amsterdam, wo sie auf Schritt und Tritt den Zeichen ehrenden Angedenkens begegnet: Denkmälern, die Anne gewidmet sind; Schulen, die nach ihr benannt sind; Straßen und Plätze, die ihren Namen tragen. Sie begegnet aber auch dem alltäglichen Elend von Geflüchteten, die sich in den Ecken und an den Rändern herumdrücken und unsichtbar zu sein versuchen. Sie freundet sich mit einem kleinen Mädchen an, sie lernt einen gleichaltrigen Jungen kennen, sie verliebt sich, so wie Anne es sich ersehnt hatte.

Und während Kitty allmählich begreift, was mit Anne und ihrer Familie passiert ist, erkennt sie in ihrer Gegenwart Parallelen und sieht Widersprüche. Bald schon fragt sie nicht mehr nur sich: Was nutzt die ganze Musealisierung, was die institutionalisierte Rückschau, wenn sich aus ihr keine Praxis für das Heute ergibt? Heißt „Nie wieder!“ mittlerweile, so lange mit historiografischem Ernst die Lage zu differenzieren, bis das, was ist, „ganz anders“ erscheint und die Hände im Schoß liegen bleiben können?

Wo ist Anne Frank gehört zu einem umfassenden Bildungsprogramm, das der Anne Frank Fonds Basel zusammen mit der UNESCO entwickelt hat und das Holocaust und Antisemitismus, Migrationsbewegungen und Kinderrechte thematisiert. Zum pädagogischen Begleitmaterial gehört nicht nur eine illustrierte Version des Tagebuchs, sondern auch eine Graphic Novel, deren Inhalt im Film lediglich das letzte Kapitel bildet. In ihm macht Kitty sich auf eine noch viel weitere Reise und vollzieht die Zeit nach, die auf den Abbruch des Tagebuchs folgte, jene letzten sieben Monate vor Anne Franks Tod 1945 im KZ Bergen-Belsen im Alter von 15 Jahren.

Kitty ist die Stellvertreterin einer idealistischen Jugend, die die Verhältnisse nicht mehr länger hinnehmen will und auf die Barrikaden geht. Noch ist sie eine Papiertigerin, existent nur als (animierte) Zeichnung, ein Tintengespenst. Noch…

Erhältlich als DVD und digital bei farbfilm Home Entertainment

Wo ist Anne Frank
BE/FR/NL/LU/IL 2021, Regie Ari Folman
Mit den Stimmen von Emily Carey, Ruby Stokes, Sebastian Croft u.a.
Laufzeit 99 Minuten