Die innere Wahrheit eines Künstlers im flirrenden Grenzbereich zwischen Traum und Tatsache: Baz Luhrmanns fulminantes Biopic „Elvis“ lässt archaische Kräfte wirken.
Ein Biopic, das Elvis Presley (1935-1977) zu seinem Gegenstand wählt, bekommt es zunächst einmal mit der Aufgabe zu tun, Mann und Mythos auseinander zu dividieren, um beide sodann fein säuberlich voneinander getrennt verhandeln zu können. Freilich ist es auch möglich, auf dergleichen Mühseligkeiten zu pfeifen und das Leben des Menschen aus Fleisch und Blut im Lichte des „King of Rock ’n‘ Roll“ erstrahlen zu lassen, oder aber im King den Menschen nachzuweisen. So oder so braucht, wer sich dieser ikonischen Figur der US-amerikanischen Kulturgeschichte nähert, starke Nerven; Skrupel- sowie Respektlosigkeit können auch nicht schaden. Und wer wäre da nun wohl besser geeignet als der australische Drehbuchautor und Regisseur Baz Luhrmann? Hat der sich doch 1996 via Romeo + Juliet mit William Shakespeare und 2013 via The Great Gatsby mit F. Scott Fitzgerald angelegt und ebenso hinreichend wie einleuchtend bewiesen, dass in den hochverehrten, staubbedeckten Säulenheiligen der Kunst unbändige (Über)Lebensenergie steckt; man darf sich nur nicht von ihnen ins Bockshorn jagen lassen.
Also packt Luhrmann den Stier bei den Hörnern und löst zunächst einmal schlau das Problem mit der legendenumrankten Vita seines Protagonisten, indem er einen unzuverlässigen Erzähler zum Conférencier macht: Colonel Tom Parker nämlich, Elvis Presleys langjährigen Manager, der, wie sich im weiteren Verlauf herausstellen wird, quasi der Inbegriff eines zwielichtigen Charakters ist/war. Der Colonel, dem Ende nahe, irrlichtert im Krankenhaushemd, einen Infusionsständer mitschleppend, wie ein Gespenst durch die Casinos von Las Vegas und erinnert sich an längst vergangene glamouröse Zeiten – die Luhrmann sodann mit gewohnt fulminanter Geste vor den staunenden Augen seines Publikums wiederauferstehen lässt. Doch während es dem Colonel um seine Reputation zu tun ist, ist es Luhrmann um die innere Wahrheit der Künstlergestalt Elvis Presley zu tun; und in jenem flirrenden Grenzbereich zwischen Traum und Tatsache, den das narrative Rahmenkonstrukt ihm eröffnet, kann er sie dingfest machen.
In der voluminösen Maske des koboldhaft-dämonischen Colonel steckt Tom Hanks, der mit den chargenhaften Seiten seiner Figur offensichtlich ein Riesenvergnügen hat. Er würde mit Elvis glatt davonlaufen, stünde ihm mit Elvis, äh, Austin Butler in der Titelrolle, nicht ein hübscher und talentierter, mit seinen dreißig Jahren noch vergleichsweise junger Mann gegenüber, der hier sehr wahrscheinlich die Rolle seines Lebens spielt. Auf den ersten Blick repräsentiert Butler – bereits sein halbes Leben lang im Geschäft, bis dato überwiegend in Fernsehserien; darunter The Carrie Diaries und The Shannara Chronicles – mit seiner unschlagbaren Kombination aus Charme und gutem Aussehen den typischen Golden Boy. Er bringt aber darüber hinaus noch die genau richtige Mischung aus Unschuld und Durchtriebenheit, Naivität und Leidenschaft mit, um nicht nur Presleys charismatische Entertainer-Persona auszudrücken, sondern auch dessen musikalischen Genius einzufangen.
Dem Konzert kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, genauer: der Beziehung zwischen Musiker und Publikum, noch genauer: der zwischen dem Sexsymbol Elvis und seinen ekstatischen weiblichen Fans. Denn was war noch mal das Innovative in Elvis‘ Musik? Zum einen natürlich die überzeugende Verbindung, die „weiße Country-Musik“ und „schwarzer Rhythm & Blues“ in ihr eingingen. Zum anderen aber eben der Umstand, dass dabei die Sinnlichkeit von R&B nicht auf der Strecke blieb. Was für einen Skandal Elvis seinerzeit mit seinen Hüftschwüngen verursachte, das kann man sich heutzutage, da sich Musiker:innen auf der Bühne routinemäßig in den Schritt fassen, kaum mehr vorstellen. Die Szenen, in denen Luhrmann die erotische Energie erregter Konzertbesucherinnen mit den konsternierten Blicken der anwesenden düpierten Männer kontrastiert, gehören mit zu den besten des Films. In ihnen wirken archaische Kräfte, trifft Enthemmung auf Kontrolle und sieht sich das Patriarchat – erst recht in Gestalt des Colonels – von entfesselter weiblicher Sexualität herausgefordert.
Fortan ist das Kräftemessen zwischen dem unbotmäßigen Rockmusiker und seinem väterlich nur scheinenden Manager auch als ein Teil jenes ewigen Kampfes zu lesen: zwischen der Freiheit, zu der die Kunst dem Verdrängten verhilft, und der Kommerzialisierung als eines Mittels der Verharmlosung und neuerlichen Zähmung.
Elvis
Australien/USA 2022, Regie Baz Luhrmann
Mit Austin Butler, Tom Hanks, Olivia DeJonge
Laufzeit 159 Minuten