Befreiungsschlag

Lügen für die Liebe: „Wir beide“ von Filippo Meneghetti – im Stream oder auf Disc

Deux, 2020, Filippo Meneghetti

Martine Chevallier und die große Barbara Sukowa brillieren in berührenden Rollen in Filippo Meneghettis „Deux“/„Wir beide“, einer mehrfach ausgezeichneten, kongenialen Paarung von Familienfilm und Liebesdrama mit Suspense-Elementen.

Sie haben in einer Zeit zueinander gefunden, da gab es das Kürzel LGBTQ noch gar nicht. Eine Zeit, in der hinter vorgehaltener Hand von „Lesben“ geflüstert wurde und die Liebesbeziehung zweier Frauen ein Phänomen der Subkultur war.

Damals also, während einer Reise nach Rom, haben Madeleine und Nina einander kennen- und liebengelernt und sind zusammen geblieben. Obwohl Madeleine verheiratet war und Sohn und Tochter hatte. Mittlerweile ist der Ehemann lange schon tot und Madeleine hat einen Enkel, der bereits zur Schule geht. Doch Rom ist der Fluchtpunkt und Sehnsuchtsort der beiden Frauen geblieben – und nun wollen sie, inzwischen in ihren Siebzigern, endlich dorthin, um wenigstens ihren Lebensabend ohne Heimlichkeit gemeinsam zu verbringen.

Madeleine, die von Nina Mado genannt wird, muss ihren Kindern nur noch die Wahrheit sagen: dass sie ihre Wohnung verkaufen und mit der Frau, die sie seit Jahrzehnten liebt, nämlich ihrer Nachbarin Nina, die die Kinder als Madame Dorn kennen, nach Rom gehen wird. Mithin müsste Mado ihrem Sohn Frédéric und ihrer Tochter Anne sagen, dass sie ihre Mutter eigentlich gar nicht kennen. Das fällt ihr natürlich sehr schwer.

Martine Chevallier, Barbara Sukowa

Martine Chevallier in der Rolle der Mado spielt das Versagen dieser immer etwas zurückhaltenden, sich selbst hintan stellenden Mutterfigur als einen geradezu physisch spürbar werdenden Widerstand, den es ihr nicht gelingt zu überwinden. Zugleich spielt sie den Schmerz ihrer Figur über das Andauern der Lüge und die Hoffnungslosigkeit, daran jemals etwas ändern zu können.

Wir beide (Deux), das französischsprachige Spielfilmdebüt des aus dem italienischen Padua stammenden Filippo Meneghetti, ist voller nuancierter, subtiler, verborgener, verheimlichter, getarnter Gefühle. Und zugleich ist Wir beide ein Film der großen dramatischen Gesten, des Alles oder Nichts, des Jetzt oder Nie.

Nach einem Streit mit Nina nämlich erleidet Mado einen Schlaganfall und was zuvor noch als recht gut gefügtes und einigermaßen abgesichert zusammengelogenes Konstrukt erschien, erweist sich nunmehr als Falle. Ninas Status sinkt zurück auf den der freundlich sich kümmernden Nachbarin Mme Dorn, die auf derselben Etage im Apartement gegenüber wohnt; der jederzeit mögliche Zutritt zur eigentlich gemeinsam bewohnten Wohnung Mados bleibt ihr verwehrt; die Türen auf dem Treppenabsatz, die zuvor immer offen standen, werden geschlossen. Und Nina hat wenig, auf das sie zurückgreifen kann, ihr Apartement ist voll unausgepackter Kisten, der Kühlschrank nicht mal eingeschaltet; während Mados Wohnung geradezu vollgestopft ist mit den Spuren jahrzehntelangen Familienlebens, mit Fotos und Erbstücken – doch kaum irgendwo finden sich Spuren von Nina, sieht man von der zweiten Zahnbürste im Badezimmer einmal ab. Davon, dass eine gemeinsam ausgebildete Paar-Identität sich in einem gemeinsam bewohnten Raum widerspiegeln würde, kann also keine Rede sein. Was wiederum Rückschlüsse zulässt auf das Maß an Selbstverleugnung, das Mados und Ninas Liebesroman Zeit ihres Lebens prägte, sowie auf den Druck, den die geänderte Situation auf die beiden ausübt.

Der systemische Shutdown widerspiegelt sich in Mados Krankheits-Symptomatik. Konnte sie zunächst nicht aussprechen, dass ihre Nachbarin nicht nur eine gute Freundin ist, sondern ihre langjährige Geliebte, verliert sie nun tatsächlich die Sprache. Also muss Nina die Stimme erheben und für beide sprechen, Nina, die Jahrzehnte lang tot geschwiegen worden war. Und Nina spricht. Und sie kämpft. Sie kämpft wie die sprichwörtliche Löwin. Weswegen Wir Beide nicht nur ein ernstliches Familiendrama ist, sondern auch ein ziemlich spannender Liebesfilm, der inszenatorisch außerdem Elemente des Thrillers aufgreift und mit Codes des Suspense arbeitet.

Dass diese mit ruhiger Hand vollzogene Verbindung der Genres funktioniert, ist zu nicht geringem Teil Barbara Sukowa in der Rolle Nina Dorns zu verdanken. Sukowas Karriere ist geprägt von angriffslustigen Frauenfiguren, die sich einer Über-Macht nicht ohne weiteres und sowieso nur ungern beugen; erinnert sei hier beispielhaft an die zahlreichen Kollaborationen der Schauspielerin mit Margarethe von Trotta, in deren Filmen sie unter anderem Hildegard von Bingen, Rosa Luxemburg und Hannah Arendt verkörperte. Wie diese Frauenfiguren ist auch Nina Dorn eine, die sich nicht mundtot machen lässt, und wie diesen verleiht Sukowa ihr eine Energie, die ihre nervenaufreibend riskanten Aktionen nicht nur nachvollziehbar und notwendig wirken lässt, sondern auch glaubwürdig und souverän durchgezogen. Immerhin geht es um nicht weniger als die eine große Liebe.

Also zittert man mit Nina, wenn sie mitten in der Nacht in die ehemals gemeinsame Wohnung schleicht und sich am Schlafzimmer der hellhörigen Pflegerin vorbei zum Bett der Geliebten tastet. Tatsächlich gelingt es Nina mit ihrer Hartnäckigkeit schließlich, Mado aus ihrem Stupor zu wecken, doch Wir beide ist kein Friede-Freude-Eierkuchen-Werk, das in der These „Rettung durch Liebe“ sein leichtes Ziel und Ende finden würde. Dass die Ereignisse in der Folge geradezu tragödische Dimensionen annehmen, liegt auch daran, dass mit der Offenlegung der Lebenslüge der Mutter zugleich die erinnerte Wirklichkeit ihrer Kinder zerbricht: Was diese für die Realität ihres Aufwachsens gehalten hatten – liebende Eltern, ein harmonisches Zuhause – erweist sich mit einem Mal als Trugbild. Die Gegenwehr fällt vehement aus, wird aber nachvollziehbar dank des genauen Spiels von Léa Drucker in der Rolle von Tochter Anne, die zwischen schockierter Erkenntnis, instinktiver Verleugnung und zögerlicher Akzeptanz das richtige Maß findet.

Meneghetti gelingt mit Wir beide ein von Solidarität und Empathie geprägtes, sorgsames Porträt des Gefühls der Sehnsucht: Der Sehnsucht der Geliebten nacheinander, der Sehnsucht der Tochter nach der Mutter, vor allem aber der Sehnsucht nach Aufrichtigkeit und Wahrheit im eigenen Leben. Die Lüge, das wird in Wir beide schmerzlich deutlich, die Lüge, die so billig und leicht zu haben ist, sie fordert am Ende immer einen hohen Preis. Und manchmal kann man ihn nicht mehr zahlen.

(Der Text erschien ursprünglich im Film- und Literaturmagazin sissymag.de)

(Gegen moderates Entgelt bei diversen Streamern bzw. auf Disc bei Weltkino/Leonine)

 

Deux / Wir beide
Frankreich/Luxemburg/Belgien 2020, Regie Filippo Meneghetti
Mit Barbara Sukowa, Martine Chevallier, Léa Drucker, Jérôme Varanfrain, Muriel Bénazéraf
Laufzeit 92 Minuten