„Saint Omer“: In ihren Langspielfilmdebüt spielt die Dokumentaristin Alice Diop anhand eines Tötungsdelikts exemplarisch die Rolle einer Immigrantin in der französischen Gesellschaft durch. Jetzt in Österreich und Deutschland im Kino.
In Gerichtssälen geht es nicht allein um die Feststellung der Schuld und die Bemessung des Strafmaßes. Es geht immer auch um eine Selbstverständigung: Was bestrafen wir wie, was sind Gründe und Ursachen, was ist ein legitimes Motiv, was ist ungehörig. In der Verhandlung auch der denkbar schlimmsten Verbrechen wird ausgehandelt, wie Gesellschaft funktioniert und funktionieren sollte. Nicht umsonst finden Prozesse zumeist vor Publikum statt und sind öffentliche, performative Akte. Akte auch im theatralen Sinne: Jeder spielt seine Rolle. Staatsanwalt, Verteidigerin, Richter, der oder die Angeklagte. Und auch deswegen ist die Gerichtsverhandlung natürlich ein beliebtes Filmsujet – von Wer die Nachtigall stört bis zu Zwielicht.
Die französische Regisseurin Alice Diop versteht in ihrem bedrückenden Spielfilmdebüt Saint Omer den Gerichtssaal – anders als das US-Gerichtsdrama – nicht als Bühne, auf der sich klar definierte Genrefiguren auf die Suche nach Moral und Wahrheit machen. Sie versteht ihn als Analyse-Zimmer. Eine Frau ist angeklagt, Laurence Coly (Guslagie Malanda), eine in Frankreich lebende Studentin aus Dakar; sie hat ihre fünfzehn Monate alte Tochter an den Strand gelegt und ist gegangen. Dann die Flut, das Mädchen ist ertrunken. Die Frage nach der Tat ist bei Verhandlungsbeginn bereits geklärt, Laurence hat gestanden. Trotzdem bekennt sie sich nicht schuldig.
Knapp zwei Stunden lang sehen wir Menschen mit den Mitteln der Sprache beim Fahnden nach den Gründen einer letzten Endes unfassbaren Tat zu. Laurence bleibt ungreifbar, weder reine Täterin noch eindeutiges Opfer, und hier liegt eine der Irritationen, die Saint Omer Zuschauerin und Zuschauer zumutet. Je länger die Befragungen der Angeklagten durch Staatsanwalt und Richterin dauern, desto mehr verliert sich das, was im Genre eigentlich ein klares Bild werden soll, im Ambivalenten. Motive verwaschen, Laurence behauptet, sie sei verhext worden, auch die Vernehmung des wesentlich älteren, weißen Vaters des Kindes (Xavier Maly) bringt keine Klarheit.
Der Prozess bringt also keine Klarheit, was die Verfasstheit und die Vergangenheit der Täterin angeht. Aber der Zusammenhang, in dem der Mord oder Totschlag (man erfährt auch das nicht) stattgefunden hat, der zeigt sich in all seiner Ambiguität. Der Kindsvater hat Laurence in einer Lebenskrise ein Dach über dem Kopf gegeben und sie, ein Verdacht zumindest, als eine Art Haushälterin gebraucht und mit ihr geschlafen. Im Verhör beschreibt er sich als liebenden Vater, das Gericht will ihm so recht nicht glauben. Der Staatsanwalt beschuldigt einen Sachverständigen, er hätte der Angeklagten die Idee, die Kindstötung hätte was mit Hexerei zu tun, als mögliche Verteidigungsstrategie in den Kopf gesetzt. Der antwortet, man müsse in solchen Fällen halt immer den ethnischen Kontext mitbedenken. Und eine aus Afrika stammende Frau glaubt in dieser Logik offenbar zwangsläufig an Hexerei, auch wenn sie in Frankreich Philosophie studiert. Laurences Philosophieprofessorin wiederum wundert sich, dass ihre Studentin sich für Ludwig Wittgenstein interessiert hat und nicht für eine Philosophie, die „ihrer Kultur näherstünde“.
Es entfaltet sich ein Szenario, in dem die Täterin eingebunden ist in eine ganze Reihe rassistisch strukturierter Hierarchien. Das ist so trocken formuliert, wie es im Film auch tatsächlich wirkt. Die Kamera verharrt in langen, statischen Einstellungen auf den Gesichtern der Menschen, die die Fragen beantworten, die in diesem Rahmen nicht beantwortet werden können. Das Verfahren der Dokumentarfilmregisseurin Alice Diop, die das Drehbuch gemeinsam mit ihrer Cutterin Amrita David und der französischen Schriftstellerin Marie NDiaye (hier deren Werkliste im perlentaucher) geschrieben hat, ist eines der betont nüchternen Aufzeichnung. Keine Emotionalisierung, jedenfalls bis kurz vor Schluss.
Saint Omer betrachtet den Prozess durch die Augen des Alter Ego der Regisseurin, der Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame). Die schreibt gerade an einem Buch zum Medea-Mythos und wohnt dem Prozess als Beobachterin bei – so wie Alice Diop 2016 den Prozess gegen die senegalesische Studentin Fabienne Kabou im titelgebenden Ort Saint Omer beobachtete. Kabou war angeklagt, ihre Tochter im Meer ertränkt zu haben.
Am Ende gibt es dann doch so etwas wie eine Katharsis, eine stille. Rama hat immer mehr Parallelen zwischen ihrem eigenen Leben und dem von Laurence wahrgenommen, das Besondere, also in diesem Fall das Extrem, wird mehr und mehr zu einem exemplarischen, wenn auch undeutlich bleibenden Fall. Am Ende schwingt Laurences Anwältin (Aurélia Petit) sich zu einem Monolog über Mutterschaft und Kindsein auf, der den Frauen im Gerichtssaal die Tränen in die Augen treibt. Und mit ihnen den Zuschauer:innen. Saint Omer verfährt in seiner Konstruktion so genau und analytisch, dass man erst nach dem Abspann registriert, mit welcher filmischen Wucht man es hier eben zu tun bekommen hat.
Saint Omer
Frankreich 2022, Regie Alice Diop
Mit Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Valérie Dréville, Aurélia Petit
Laufzeit 123 Minuten