The Sound of Horror

Die Schreckensphantasie „Last Night in Soho“ von Edgar Wright – im Stream oder auf Disc.

Last Night in Soho, Edgar Wright

Edgar Wrights bislang bester Film „Last Night in Soho“, mit der aparten Anya Taylor-Joy („The Queen’s Gambit“) und Thomasin McKenzie, beamt sich leichtfüßig ins London der Sixties, mutiert aber allmählich zum Horrortrip.  

Vinyl-Alben spielen nicht nur etwas ab, sie sind immer auch Speichermedien. Speicher nicht nur für die Musik, sondern auch für die Emotionen der Hörer:innen. Man hört ein Album nach Jahren, und auch wenn man sich nicht mehr bewusst erinnert, wie es damals war, ist auf einmal wieder etwas von einst spürbar. Das geht über das Subjektive hinaus: Bestimmte Musiken halten die Atmosphäre einer vergangenen Epoche zusammen, und das nicht nur in dem Sinne, dass man irgendwelche History-Channel-Dokumentationen zum Beispiel über 1968 prima mit „Street Fighting Man“ untermalen kann. Ein Sound kann auch für die Nachgeborenen den Eintritt in eine Vergangenheit bedeuten, und zwar umso intensiver, umso mehr Bilder und Texte der damaligen Zeit sich mit ihm verbinden lassen.

Edgar Wrights Filme sind immer unübersehbar mit der Popkultur der Vergangenheit verbunden und natürlich vor allem mit der Geschichte des Genrekinos, die Wright rauf und runter zitiert. Das nennt man dann meist Hommage oder postmodernes Kino, und meist ist der Tonfall in diesen Fällen ein eher leichter. Dabei geht es eigentlich um Erinnerungsarbeit, auch wenn „Arbeit“ in diesem Zusammenhang verdeckt, wie lustig das sein kann. Shaun of the Dead ist nach wie vor eine der wenigen richtig, richtig guten Zombie-Komödien, Hot Fuzz ein Copfilm-Comedy-Genrestück. Und Baby Driver zeigte zuletzt wieder, dass Filme hoher Referenzdichte am besten funktionieren, wenn beide Ebenen parallel laufen: Verweise und Zitate – und eine einfach geradeweg erzählte Geschichte, die auch jene Zuschauer:innen prozessiert kriegen, die die Referenzen nicht erkennen oder denen sie egal sind.

Horror-Thriller Last Night in Soho
Last Night in Soho, 2021, Edgar Wright

Last Night in Soho ist Wrights bester und interessantester Film bislang. Vinyl dient der Heldin Vicky (Thomasin McKenzie) hier als Eskapismus-Möglichkeit, um ins London der Sixties zu entkommen, genauer nach Soho – damals ein popkulturelles Zentrum Europas und in Teilen ein Rotlichtviertel. Die Musik von Petula Clark, Cilla Black, Burt Bacharach und vielen anderen fungiert hier als Medium, um die Schwelle zur Vergangenheit zu übertreten. Vicky, medial begabt wie ihre früh verstorbene Mutter, gelingt es buchstäblich im Schlaf, eine Erinnerung an eine Zeit zum Leben zu erwecken, die nicht ihre war, und in der sie mehr und mehr aufgeht. Bis die Geister der Vergangenheit mit hinüberkommen in die Gegenwart.

Ihre Zeit ist das London der 2020er Jahre aber auch nicht. Vicky kommt vom Land und beginnt an der Universität Modedesign zu studieren. Gleich am ersten Abend wird sie von ihren Kommilitoninnen weggemobbt. Sie mietet sich in ein Dachzimmer ein, bei einer alten Frau (gespielt von der 2020 verstorbenen Diana Rigg aus Schirm, Charme und Melone, der emblematischen TV-Serie der Sixties). In ihren Träumen trifft sie Sandy (Anya Taylor-Joy, die Schachkönigin aus The Queen‘s Gambit war auch schon eine Hexe), eine junge Frau, die in Soho ihr Glück finden und Sängerin werden wollte. Was als leichtfüßiger Trip in die Sixties beginnt, transformiert sich mehr und mehr in eine Hölle.

Diese Transformation geschieht nicht nur auf der Plot-Ebene – mit Sandys Karriere als Sängerin wird es jedenfalls nichts –, sondern auch und vor allem auf der Ebene der Bild- und Raumgestaltung. Die anfangs knalligen Farben, die an das Kino Michael Powells erinnern, werden mehr und mehr mit den Farbpaletten des Giallo übermalt. Es gibt unheimlich viele Rotschattierungen in Last Night in Soho: Rotlichtrot, Blut auf einem Messer, schwere rote Vorhänge, das lichte Pink des Kleides, das Vicky im Seminar entwirft.

Roman Polanskis Ekel ist immer wieder präsent, und für das British Film Institute hat Edgar Wright gerade ein Programm mit Filmen aus den sleazigen Ecken des britischen Kinos der Sechzigerjahre, die ich alle noch nicht kenne, kuratiert. Zum ersten Mal hat der Zitat- und Referenzwust, den Wright auf der Leinwand auffährt, nichts Leichtfüßiges mehr. Last Night in Soho ist der erste seiner Filme, der nicht humorig ist, sondern sich ab dem zweiten Akt als straighter Horrorfilm entpuppt. Ein Horrorfilm, der vieles ist, und das nicht parallel, sondern immer zugleich: ein Film über die Geschichte Londons; ein Film über die Gewalt in einer Gesellschaft, in der der Feminismus noch nicht so erfolgreich war damit, die Geschlechterverhältnisse egalitärer zu gestalten; nicht zuletzt eine Liebeserklärung an Außenseiter, die Dinge wahrnehmen, die von anderen nicht wahrgenommen werden können.

Horror-Thriller Last Night in Soho
Matt Smith, Thomasin McKenzie, Anya Taylor-Joy

Last Night in Soho lässt die Geister aus den Wänden und Böden hervorbrechen und erzählt so auch davon, wie die selektive Erinnerung an ein geliebtes Früher dazu neigt, die Wahrnehmung der Gewalt der Vergangenheit unter der Schönheit ihrer Klänge und Bilder zu begraben. Dass es Edgar Wright unter diesen Voraussetzungen gelingt, die Sixties trotz allem zu feiern, ist schon ein Zeichen für große Regiekunst.

(Gegen moderates Entgelt bei diversen Streamern oder auf Disc bei Universal Pictures)

Last Night in Soho
USA/UK 2021, Regie Edgar Wright
Mit Thomasin McKenzie, Anya Taylor-Joy, Matt Smith, Terence Stamp, Diana Rigg
Laufzeit 103 Minuten