Schwarze Perle

Kinderhorror aus dem hohen Norden: „The Innocents“ von Eskil Vogt – jetzt im Kino.

The Innocents, 2021, Eskil Vogt

In seinem fabelhaften Horrorfilm „The Innocents“ / „De uskyldige“ bestätigt der Norweger Eskil Vogt eine Faustregel des Genres: Kindern ist nicht zu trauen.

Ida und Anna sind neu in der Hochhaussiedlung. Der Vater hat den Job gewechselt und die Familie musste umziehen. Es ist Sommer und die meisten Kinder, die in den etwas anonym wirkenden Blöcken wohnen, sind noch im Urlaub. Trägheit liegt über der weitgehend leeren Anlage, die an einen Wald angrenzt und an eine Landstraße. Doch das Gefühl sommerferialer Beschaulichkeit will nicht aufkommen, vielmehr liegt eine gewittrige Spannung in der Luft, dräut gewaltsame Entladung diffusen Ungemachs.

Der Titel dieses schlichten und schrecklichen Horrorfilms aus dem Hohen Norden, The Innocents (De uskyldige) von Eskil Vogt, ruft zwar Erinnerungen wach an Jack Claytons gleichnamige Klassikerverfilmung nach der Kurzgeschichte „The Turn of the Screw“ von Henry James mit Deborah Kerr aus dem Jahr 1961, hat mit dieser aber nicht mehr gemein als Kinder, die kurz unschuldig wirken, bevor sie geradezu schauerlich unheimlich werden. In beiden Fällen gilt: Unschuldig ist am Ende keine:r mehr.

Ida ist neun und von der ganzen Umzugssituation genervt; vor allem, weil sie sich nun wieder verstärkt um ihre Schwester Anna kümmern muss, dabei ist die doch eigentlich älter. Manchmal macht Ida sich einen sadistischen Spaß daraus, Anna zu quälen, indem sie sie zwickt oder Glasscherben in ihre Schuhe steckt. Wohl wissend, dass Anna sie nicht anklagen wird, denn Anna spricht nicht, sie ist Autistin. Als solche gerät sie leicht aus der Fasson, wenn man ihre Kreise stört oder etwas ungewohnt ist. So wie eben jetzt die neue Umgebung. Also soll Ida mit Anna auf den Spielplatz gehen und sie dort nicht alleine lassen. Was sie dann aber natürlich doch tut.

Rakel Lenora Fløttum, Sam Ashraf

So trifft Ida auf Ben, den etwa gleichaltrigen Jungen, der ihr im Wald etwas zeigt: er kann Gegenstände mit der Kraft seiner Gedanken bewegen. Und so trifft Anna auf Aisha, die etwas jünger ist als Ida und die sich zu dem „großen“ Mädchen in die Sandkiste setzt und mit ihr redet. Sie versteht, was Anna sagt, meint sie später zu Ida, dabei war von Anna außer den üblichen gutturalen Lauten nichts zu hören.

Telekinese? Telepathie? Übersinnlich begabte Kinder? Außenseiter jedenfalls, deren überschaubarer Kosmos von Furcht und Schrecken bestimmt wird. Aisha hat eine Pigmentstörung und großflächige hellere Flecken in ihrem ansonsten dunklen Gesicht; Ben ist noch dunkelhäutiger als Aisha, er ist meist allein unterwegs, weil die anderen (weißen) Jungs nicht mit ihm spielen wollen; Anna ist nicht ganz von dieser Welt und Ida ist „die Neue“. Gemeinsam ist ihnen die Erfahrung von Ausgrenzung. Also tun sie sich zusammen – denn gemeinsam ist man stark. Oder etwa nicht? Stärkt der Zusammenschluss womöglich nur das Böse, das im Wald sitzt und die Kinder benutzt, und das seinen schwarzen Schatten anfangs schon warf? Oder hat die grausame Macht, die hier wirkt und auf die sie sich einlassen, ihren Ursprung in den Kindern selbst?

Die Fragen, die Eskil Vogt in The Innocents aufwirft, kommen schnell und sind zahlreich. Doch der norwegische Filmemacher und Drehbuchautor hat es in seinem Zweitling – voriges Jahr beim Filmfestival in Cannes in der Sektion Un Certain Regard uraufgeführt – nicht eilig, sie zu beantworten. Anstatt an Auf- oder Erklärung des rätselhaften Geschehens arbeitet er lieber daran, das Gefühl der Beunruhigung, das sich bereits zu Beginn einstellte, stetig wachsen zu lassen. Unterstützt wird er dabei zum einen von einem gefinkelten, mit allen Schattierungen latenter Gefahr spielenden Sound Design, für das Gisle Tveito und Gustaf Berger mit einem europäischen Filmpreis ausgezeichnet worden sind. Und zum anderen von vier herausragenden Kinderschauspieler:innen, denen einiges abverlangt wird.

Freilich lässt sich davon ausgehen, dass das gräuliche Geschehen und die kindliche Reaktion darauf jeweils voneinander getrennt gefilmt worden sind, und doch sind die emotionalen Register, die gefordert werden, durchweg schwer lastende wie Angst, Verunsicherung, Trauer, Entsetzen und Verzweiflung. Rakel Lenora Fløttum (Ida), Alva Brynsmo Ramstad (Anna), Sam Ashraf (Ben) und Mina Yasmin Bremseth Asheim (Aisha) aber tauchen tief in dunkle Gefilde und heben diese schwarze Perle des europäischen Horrorkinos empor. Kindern war in diesem Genre schließlich noch nie zu trauen, das ist eine alte Faustregel, welcher der talentierte Nachwuchs hier in aller Form alle Ehre erweist. Und so scheint wenigstens dieser kleine Teil Zukunft gesichert.

 

De uskyldige / The Innocents
Norwegen 2021, Regie, Drehbuch Eskil Vogt
Mit Rakel Lenora Fløttum, Alva Brynsmo Ramstad, Sam Ashraf und Mina Yasmin Bremseth Asheim
Laufzeit 118 Minuten