Schockliebe

Wunderschöner Anime: „Suzume“ von Makoto Shinkai – im Kino

Shinkai, Suzume
Suzume, 2022, Makoto Shinkai

„Suzume“: existenzielle Katastrophe, eingebettet in einen kosmischen Kommentar zu einer krisengeschüttelten Gegenwart, aber einfach ein fantastischer Anime – jetzt in AT und DE im Kino.

Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Aber natürlich heilt sie besser, wenn die Wunde gesäubert ist. Wenn nicht Verdrängtes in ihr schwärt, das Narbengewebe und wildes Fleisch wuchern lässt. Man kann sich dieses Verdrängte in Gestalt eines mächtigen, roten, phallisch anmutenden Wurms vorstellen, der unter der Erde nur darauf lauert, dass ihm Tür und Tor geöffnet werden. Beispielsweise von einem schockverliebten Teenager-Mädchen, das dann auch noch die Torheit begeht, den Schlussstein zu ziehen, der den ganzen komplizierten magischen Schließmechanismus beieinander hält.

Suzume von Makoto Shinkai erreicht auf der nach oben offenen Skala der Möglichkeiten des japanischen Zeichentrickfilms (= Anime), fantastische Welten zu entwerfen, Werte in der Größenordnung jenes Seebebens, dessen Auswirkungen (Tsunami und Super-GAU) vor 12 Jahren die Präfektur Fukushima für immer verwüsteten. Und nein, das ist jetzt nicht zynisch, handelt Suzume doch eben davon. Respektive von den Traumata, die die durch zahlreiche Vulkane geologisch erschwerten Bedingungen des Inselreichs im Gefolge mit sich führen.

Shinkai, Suzume

Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten, so lautet der dreifaltige Vorschlag des hochverehrten Sigmund Freud, wenn es um den Umgang mit jener unseligen Tendenz des Verdrängten geht, früher oder später mit Wucht an die Oberfläche zu platzen und allgemein die Stimmung zu vergällen. Erst recht einem Volk, dem die nach außen gewahrte Contenance über alles geht und das nicht dafür bekannt ist, das Herz auf der Zunge zu tragen. Freilich liegt es den dem Shintō und damit einer Variation des Animismus verpflichteten Japaner:innen näher, im aufbäumenden Gewusel des riesigen Wurms weniger das verdrängte Unglück als vielmehr das Gerumpel (unter) der Erde zu personifizieren: nämlich als Gott (Kami), der durch die unbedacht hergestellte Öffnung zwischen den Sphären in die Freiheit will, um dort dann in Gestalt eines zünftigen Erdbebens aus der Welt der Menschen Kleinholz zu machen. Und also muss nun Suzume, die 17-jährige Titelheldin, die Öffnung(en) wieder schließen; gemeinsam mit einem dreibeinigen, gelben Kinderstuhl, dem seine besondere Rolle nicht nur deswegen zukommt, weil sich der eigentliche Türhüter – Souta, Suzumes Schockliebe – in ihn hineingebannt wiederfindet. Verflucht übrigens vom Schlussstein selbst, der wiederum in Gestalt einer sprechenden Katze mit einem überlangen, buschigen Schwanz auf der Flucht ist und übermütig eine Türe nach der anderen aufreißt.

Shinkai, Suzume

Ja, hier ist mächtig was los. Und die gemeine Mitteleuropäerin kann zwischendurch ein wenig den Durchblick verlieren angesichts einzelner kosmisch-energetischer Abläufe sowie differierender Seinszustände und Erscheinungsformen unterschiedlicher Wesenheiten. Nie aber vergisst man, dass es hier um die existenzielle Katastrophe geht, um ein kleines Mädchen, das die Mutter verloren hat und dessen Welt unterging. Doch Shinkais Erzählung ist nicht bloß verwurzelt in der jüngeren Geschichte Japans, sondern auch als Kommentar lesbar zu einer global die Menschen beängstigenden, krisengeschüttelten Gegenwart.

Es greift allerdings zu kurz, Suzume allein im Kontext des japanischen Konzeptes des „Iyashi“ (d.i. Trost und Heilung) zu rezipieren, das seit Mitte der neunziger Jahre (Erdbeben in Kobe, Anschläge der AUM-Sekte in Tokyo, Wirtschaftskrise) in Form von Manga und Anime, Ratgebern und Katzenliteratur virulent ist. Denn weniger seelische Wellness und Resilienz – Kampfbegriffe im modernen Kapitalismus, wenn es um die Wiederherstellung der Konsumbereitschaft endgestresster Erstwelt-Bewohner:innen geht – stehen am Ziel von Suzumes Reise. Vielmehr wird mit jeder Tür, die Suzume und Souta schließen, ein Teil der verlorengegangenen kosmischen Ordnung wiederhergestellt, wird das Aufbäumen der (Natur-)Gewalten befriedet, indem der Schmerz der Menschen über den Verlust beglaubigt wird. Denn alles hängt mit allem zusammen und nichts davon ist lauwarm oder gemächlich. Weder das sonnenbeglitzerte Meer, das von seiner Gefährlichkeit nichts spüren lässt und dessen Schönheit einen zu Beginn und zum Ende der Geschichte schier aus dem Sessel reißen will, noch die verwunschenen Ruinenlandschaften, die vom vergangenen Leben zeugen und von der Entvölkerung des ländlichen Japan, noch die Beziehungen der Menschen selbst, die von heftigen Gefühlsausbrüchen auf Zerreißproben gestellt werden.

Makoto Shinkai (*1973) teilt sich nun schon seit geraumer Weile mit Mamoru Hosoda (*1967) die Anwartschaft auf den Thron von Anime-Großmeister Hayao Miyazaki (*1941). Hosoda feierte 2021 mit Belle einen enormen Erfolg, Shinkais Suzume bricht seit der Heimpremiere vergangenen November alle Rekorde. Doch sind es weniger die kommerziellen Verdienste als vielmehr der emotionale Reichtum und die spirituelle Kraft ihrer Geschichten, die beide als würdige Nachfolger ausweisen; vielleicht lässt sich der Thron ja ein bisschen verbreitern, dereinst…