Psychedelische Kraft

Rauschhafter Animationsfilm: „Cryptozoo“, auf Mubi bzw. Prime Video

So etwas hat man noch nicht gesehen: der zauberhaft psychedelische Animationsfilm „Cryptozoo“ von Dash Shaw und Jane Samborski.

Ein blau-orangener Babyelefant saugt den Menschen die Träume aus, und in den meisten Fällen ist es eine Erleichterung. Es sind die Siebzigerjahre in den USA, Vietnamkrieg und der Kampf zwischen Establishment und counter culture ist in vollem Gange. Die US-Regierung will den Elefanten, ein Baku und der Einzige seiner Art, fangen und als Waffe einsetzen – er soll die Träume der Hippies und Kommunisten fressen. Die Tierärztin Lauren Grey, die als Kind vom Baku besucht wurde und einen Zoo für mythische Wesen, den Cryptoiden, unterhält, macht sich mit zwei Mitstreiterinnen auf die Suche, um dem Militär zuvorzukommen.

Soweit die Plotprämisse dieses Films, der sich für seinen Plot nicht allzu sehr interessiert. Es geht in Cryptozoo vor allem um die handgemalten, bewusst staksig animierten Bilder, deren Reichtum einen von der ersten Minute an bezaubern will. Regisseur und Autor Dash Shaw und die Animationsfilmerin Jane Samborski fahren eine Menge Tiere auf – Mythenwesen, Eigenkreationen, Hybride, eine Medusa, einen Jungen, der sein Gesicht auf seinem Buch und keinen Kopf hat. Alles überbordend, wunderschön anzusehen und von großer psychedelischer Kraft.

Cryptozoo ist einer der wenigen Filme der letzten Jahre, aus denen man mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem Gefühl rausgeht, so etwas in der Form nun aber auch noch nicht gesehen zu haben. Ästhetische Bezugspunkte gibt es natürlich, Winsor McCays Little Nemo-Comics etwa, oder René Laloux’ Film La Planete Sauvage. Und die Orgienszene im ersten Akt gemahnt wenn auch nicht ästhetisch, so doch zumindest in der Verbindung von klobigen Bildern und expliziten Ferkeleien an Ralph Bakshis Fritz the Cat-Verfilmung. Wie überhaupt direkte Vorläufer vor allem in den US-Underground-Comics der Sechziger- und Siebzigerjahre zu suchen wären.

Bei allen erkennbaren Reminiszenzen haben Shaw und Samborski einen singulären Film geschaffen, der virtuose Experimentierlust und forcierte Kindlichkeit amalgamiert und so eine wirklich einzigartige Atmosphäre entfaltet (ein Biest von einem Film könnte man ihn auch nennen). Was sich in Shaws Debütfilm My Entire High School Sinking Into the Sea, der das Genre der Highschool-Komödie ins Psychedelische überführte, schon andeutete, schlägt hier voll durch: Die Lust am Bild, am Erschaffen von Phantasiewesen und -welten, überträgt sich ins Publikum. Die verschiedenen Sequenzen in Cryptozoo sind von verschiedenen Zeichner:innen erstellt worden, die sich offensichtlich austoben konnten. Dass selbst die Actionsequenzen im Finale bei aller Zweidimensionalität und Statik tatsächlich mitreißend geraten sind, ist schon ein kleines filmästhetisches Wunder.

In der vorgeblichen Naivität, mit der Cryptozoo freidrehende, das Erleben intensivierende Phantasie als Refugium der Gegenkultur codiert, und ihr die graue, gewaltvolle instrumentelle Vernunft des Establishments gegenüberstellt, reproduziert der Film einen Topos vor allem der Sixties. Was hier aber eigentlich verhandelt wird, ist ein Thema der Gegenwart: der Kampf um Vielfalt und das Dilemma, das entsteht, wenn die einzige Möglichkeit, Vielfalt zu erhalten, darin besteht, dass man sie in Marktdynamiken einspeist.

In dem Zoo, den Lauren eröffnen will, würden die mythischen Wesen als Schauwerte fungieren. Die Vielfalt allerdings, die Cryptozoo feiert, will, so erzählt es die Schlussvolte des Films, nicht instrumentalisiert werden. Cryptozoo ballert einen derart rauschhaft mit Bildern, Farben, Formen und Gestalten zu, dass der Diskurs, den der Film führt, hin und wieder verblasst. Er läuft jedenfalls auf die schlichte Erkenntnis zu, dass man die Dinge so langsam besser mal in Frieden lassen sollte. Ein rundum schöner, unterschwellig ausgesprochen düsterer Film.

(In Deutschland auf Mubi. In Österreich enthalten im Mubi-Channel bei Amazon Prime, 14 Tage Gratis-Testzeitraum.)

 

Cryptozoo
USA 2021, Regie Dash Shaw Animation Jane Samborski
Mit den Stimmen von Lake Bell, Michael Cera, Alex Karpovsky, Zoe Kazan, Louisa Krause,Peter Stormare, Angeliki Papoulia, Thomas Jay Ryan, Grace Zabriskie
Laufzeit 90 Minuten