Pinocchio und Mussolini

Schlicht fabelhaft: Guillermo del Toros „Pinocchio“-Adaption – auf Netflix

Toro, Pinocchio
Pinocchio, 2022, Guillermo del Toro

„Pinocchio“: Guillermo del Toro schaut in seiner Version der berühmten Holzpuppenheldenreise tief in die Seele der Geschichte.

Allein für Leinwand und Mattscheibe existieren bereits weit über dreißig Adaptionen des Pinocchio-Stoffes. Trickfilme finden sich darunter zahlreiche, was nahe liegt, handelt es sich beim Titelhelden doch um eine aus Holz geschnitzte Figur, die auf zauberische Weise zum Leben erwacht. Es gibt Spielfilme, Musicals, einen Horror- (lebendig werdende Puppe, eh klar) und einen Erotikfilm (denken Sie hier an die wachsende Nase, dann leuchtet auch das ein), es gibt Fernseh-Mehrteiler und Endlos-Serien. Die erste Verfilmung stammt aus dem Jahr 1911 und allein seit der Jahrtausendwende entstanden deren elf. Darunter die vollkommen misslungene des grässlichen Roberto Benigni, die auch nicht wirklich gelungene des ansonsten sehr verdienstreichen Matteo Garrone sowie zuletzt die in Disney’schem Sirup absaufende des vor nichts zurückschreckenden Robert Zemeckis, in der zu allem Überfluss auch noch Tom Hanks sein Talent verschwendet; die Chose wird derzeit auf Disney+ verstreamt. Und nun kommt Netflix daher, packt den seinen aus und pisst dem Hort von Harmonie und Familiengedöns derartig ans Bein, dass es lediglich mit einer neuen Hose nicht getan sein wird. Metaphorisch gesprochen. ___STEADY_PAYWALL___

Mit Guillermo del Toro nämlich nimmt sich in Netflixens Auftrag ein Filmemacher des unbotmäßigen Holzkaspers an, der seine Meisterschaft im Genre des Fantastischen niemandem mehr beweisen muss und der zudem bereits mehrfach demonstriert hat, dass das fantastische Element in einem politisch verankerten respektive gesellschaftlich relevanten Kontext mit besonderer Schlagkraft fruchtbar werden kann; genannt seien hier insbesondere El laberinto del fauno (2006) und The Shape of Water (2017; Vertiefung hier).

Toro, Pinocchio

Tatsächlich bietet ja schon der Ursprungsstoff – den sich 1881 der italienische Journalist und Schriftsteller Carlo Collodi (1826-1890) in Gestalt einer Fortsetzungsgeschichte für eine wöchentlich erscheinende Kinderzeitschrift ausgedacht und 1883 unter dem Titel „Le avventure di Pinocchio“ gesammelt veröffentlicht hatte – zweierlei Lesart. Zunächst ganz simpel die des Kinderbuchs mit pädagogischer Absicht, ein Entwicklungsroman, in dem das chaotische, anarchische Kind zu einem „guten Menschen“ und nützlichen Mitglied der Gesellschaft erzogen wird. Doch gibt der hedonistische kleine Kerl, der nichts lernen will und nicht gehorchen, der lieber in die Welt aufbricht und Unfug treibt, auch erwachsenen Lesern noch genug zu denken: als Narrenfigur, deren Abenteuer der Selbstreflexion und Besinnung recht dienlich sein können. Ganz abgesehen davon, dass Pinocchio auf seinem Weg von der ungebärdigen Holzpuppe zum gehorsamen Jungen eine klassische Heldenreise absolviert, deren zentrales Motiv die Herzensbildung ist.

Das sieht freilich auch del Toro so, nur eben ein klein wenig anders. Der Zurichtung, die Mittel und Ziel konservativer Erziehungsmethoden ist, erteilt er knapp und rasch eine Absage. Schon allein damit, dass er den Erziehungsberechtigten selbst, den Tischler Geppetto, aus der Ecke moralischer Tadellosigkeit heraus- und in eher menschliche Gefilde hineinholt. Betrunken und wütend fällt der Handwerker in einer Gewitternacht über einen Baum her und gerät der Schöpfungsakt zu einem Gefuhrwerke, das an Frankensteins Experiment gemahnt. Mit seinen schief eingeschlagenen Nägeln, grobgeschnitzten Zügen und mit unbegradigter Statur weist der am folgenden Morgen begeistert das Leben am Schopf ergreifende fadenlose Marionettenbub auch das dem Puppenwesen immanente Unheimliche auf – zudem er ein Loch in der Brust hat, in dem es sich eine Grille häuslich eingerichtet hat, bald auch noch ein Ohr verlieren wird und ja, die Füße, wir erinnern uns an das Schicksal der Füße…

Pinocchios Reise ist kein walk in the park; erst recht nicht insofern del Toro deren Bedingungen weiter verschärft, indem er sie vor dem Hintergrund von Mussolinis Italien ansiedelt und den naiven Helden in den Krieg schickt. Gehorsam, das haben wir aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt, ist keine Option, wenn man im Faschismus lebt. Und also geht es in diesem Pinocchio um mehr und um anderes als „lediglich“ eine Verwandlung von Holz in Fleisch und Blut, die sich durch gutes Benehmen verdienen lässt. Vielmehr schaut Guillermo del Toro in seinem Pinocchio tief in die Seele der Geschichte, er geht ihr – auf der Fährte Kubricks, der vor ihm (mit Artificial Intelligence, 2001) auch Steven Spielberg folgte – auf den Grund. Er findet im Grauen die Liebe, die alles besiegende. Sie kümmert sich nicht darum, ob einer einen Kopf aus Holz hat, solange er das Herz am rechten Fleck trägt.

 

Pinocchio
USA/MX/FR 2022, Regie Guillermo del Toro, Mark Gustafson
Mit den Stimmen von Ewan McGregor, David Bradley, Gregory Mann
Laufzeit 117 Minuten