Fragile Welt

Tief beeindruckender Trauerhorror: „Lamb“. Im Kino.

Das existenzielle Horrordrama „Lamb“ von Valdimar Jóhannsson, mit Noomi Rapace, ist ein veritables Überraschungsdebüt aus Island.

Das persönliche Fazit gleich mal an den Anfang: Selten hat mich in den letzten Monaten ein Film so sehr erwischt wie dieser. Man kann anhand von Lamb über das Mensch-Natur-Verhältnis räsonieren oder über moralphilosophische Fragen nachdenken. Der erste (und bleibende) Eindruck aber ist ein niederschmetternder. Das Ende ist einer von diesen Kinomomenten, nach denen die Welt sehr fragil erscheint. Welche Filme das schaffen, ist nicht zuletzt von Zufälligkeiten abhängig und somit noch enger verbunden mit dem, was die Zuschauerin jeweils mitbringt, als in anderen Hinsichten auf das Kino. Bei mir waren es neben einigen anderen Roman Polanskis Der Mieter, Lilja-4-ever, The Ones Below und seltsamerweise auch Sam Raimis The Grudge-Remake – alles Filme, die mich mit dem Gefühl zurück in die Welt entlassen haben, man sollte mit ihr, den anderen und mit sich selbst, besser sehr behutsam umgehen. Das hält dann zumindest ein paar Tage vor.

Maria (Noomi Rapace) und Ingvar (Hilmir Snær Guðnason) haben sich für ein Leben in der Einöde Islands entschieden, zusammen mit einer Herde Schafe. Eines Nachts, erzählt uns die subjektive Kamera, die im Slasherfilm-Modus ums Haus und um den Stall schleicht, bekommt die Farm Besuch. Wer da war, erfährt man erst am Schluss, und es soll hier auch nicht gespoilert werden. Jedenfalls gelingt Drehbuchautor und Regisseur Valdimar Jóhannsson in seinem Langfilmdebüt einer der raren final twists, die exakt den richtigen Punkt treffen; man hat es natürlich schon geahnt, und trotzdem drückt Lamb einem die Bestätigung (und ihre grausame Konsequenz) direkt in die Magengrube und auf die Tränendrüse.

Bis zum todtraurigen Ende erzählt Lamb von der Liebe eines Paares zu ihrem zweiten, adoptierten Kind. Diese Liebe speist sich aus der Trauer über den Verlust des ersten und geht über Leichen. Beziehungsweise über eine Schafsleiche. Das Drama, das hier hinter der Überschreitung der Grenze zwischen Mensch und Tier steht, entfaltet Jóhannssons Skript mit nur wenigen Andeutungen, die aber alle sitzen. Es genügen zwei, drei Dialogzeilen, schon tut sich eine weitere Facette auf. Die Figurenpsychologie hier ist einfach und klar und greift zugleich tief.

Schön ist auch, wie Lamb Konstellationen und Inszenierungsideen dem Horrorgenre entnimmt (Versündigung an der Natur, etwas Böses schleicht ums Haus), dann aber immer wieder, ohne großes Aufsehen davon zu machen, in andere Regionen einbiegt. Es klingt abgegriffen, aber die Bilder einer wilden, von den Menschen nur oberflächlich gezähmten und nutzbar gemachten Natur entfalten ihre Wirkung in Lamb als intensivierend wirkende Kulisse für ein existenzielles Drama. „Existenziell“ nicht im Sinne von bedeutungsschwerem Rumgehuber, sondern in einem ganz einfachen Sinn: Der denkbar schlimmste Verlust (der Tod des eigenen Kindes) soll durch eine elementare Form des Glücks negiert werden (die bedingungslose Liebe zu einem neuen Kind). Alles geht schief, und das schreckliche Ende verleiht allem, was bis dahin zu sehen war, unheimliches Gewicht.

 

Lamb / Dýrið
Island/Schweden/Polen 2021, Regie Valdimar Jóhannsson
Mit Noomi Rapace, Hilmir Snær Guðnason, Björn Hlynur Haraldsson
Laufzeit 106 Minuten