Eingeweide als Augenweide

Der neue Cronenberg – jetzt flat auf Prime Video

Cronenberg, Crimes of the Future
Crimes of the Future, 2022, David Cronenberg

„Crimes of the Future“: Für David Cronenberg schließt sich ein Kreis. Viggo Mortensen und Léa Seydoux stehen in dieser essayistischen Sci-Fi-Versuchsanordnung im hypothetischen Dienste zäher Körperlichkeit.

Vor etwa 20 Jahren, also mit dem Erscheinen seines Trauma-Filmes Spider, hat sich David Cronenberg von den Body-Horror-Exzessen seiner ersten zwei Werkphasen verabschiedet. Oder besser: Er hat ihn transformiert. Körper spielen in den Filmen Cronenbergs, die nicht mehr im Genre-Rahmen „Horror“, sondern als Autorenfilme rezipiert worden sind, noch immer eine zentrale Rolle. Die Tätowierungen in Eastern Promises (hier eine damalige Besprechung), die hysterisch-erregten Körper in Eine dunkle Begierde, die alle Leiblichkeit sterilisierenden Interieurs in Cosmopolis. Das waren Bilder einer sozusagen sublimierten Leiblichkeit, während der Kamerablick in Die Fliege und Naked Lunch und vielen anderen Filmen Cronenbergs in den Körpern wühlte, auf der Suche nach dem „neuen Fleisch“, wie es in Videodrome hieß.

Im Frühwerk ist das Bedrohliche der Leiblichkeit – der Schmerz, die Unkontrollierbarkeit – immer verbunden mit Lust und einer Erweiterung der Möglichkeiten. Ungefiltert ambivalenter wirkt Horror selten. Crimes of the Future, der erste Film David Cronenbergs seit Maps to the Stars, also seit acht Jahren, weist nun zurück auf die Anfänge. Er ist die zweite Produktion Cronenbergs mit diesem Titel, die erste hat er 1970 produziert. Der Film von 1970 und der von 2022 haben hinsichtlich Story und Konzept nichts miteinander zu tun. Also ist die auffällige Filmtitelwahl eigentlich nur als Hinweis zu verstehen: Hier soll sich ein Kreis schließen.

Stewart, Seydoux, Crimes of the Future
Kristen Stewart, Léa Seydoux

Und tatsächlich wirkt der neue Crimes of the Future wie ein Versuch, viele der Ideen und Bilder zu bündeln und neu zu verhandeln, die Cronenberg als Autor seit den späten Sechzigern beschäftigen. Allerdings ist das erzählerische Gerüst, in dem Körper hier sozusagen aufgespannt sind, anders gebaut. Die Fliege und auch der vergleichsweise erratische Videodrome waren noch geradeaus erzählt – Genrefilme. In Crimes of the Future ist der Plot nicht viel mehr als eine Anlassreihung für einzelne starke Bilder und Spekulationen. Hypothesenkino, das nichts mehr von einer etwaigen Lust am Erzählen spüren lässt. Was diesen Film eben auch sehr anstrengend werden lässt: mehr eine Versuchsanordnung als eine Geschichte.

In der Welt von Crimes of the Future hat die Evolution einen überstürzten Sprung nach vorne gemacht. Die Menschen entwickeln neue Organe, die wiederum von Staatsorganen katalogisiert werden. Das Schmerzvermögen der Menschen hat abgenommen, Live-Operationen haben Performance-Charakter, erotisierte popkulturelle Events. Glamour gibt es allerdings nur wenig: Die Gebäude und Innenräume sind siffig, alles an dieser Welt wirkt verarmt.

Im Zentrum des Geschehens steht das Künstlerpaar Saul Tenser (Viggo Mortensen) und Caprice (Léa Seydoux). Sauls Körper produziert unablässig neue Organe, Caprice holt die Wucherungen auf der Bühne aus ihm raus, mit Hilfe gleichfalls monströs wirkender technischer Gerätschaften und begleitet von Video-Installationen, die die frohe Botschaft verkünden: „Body is reality“.

Performancekunst, Crimes of the Future

Damit sind wir aber schon bei einem Paradox des Films. Wo niemand mehr Schmerzen empfinden kann und der Schnitt mit dem Skalpell und das Einführen von schwerem Gerät unter die Bauchdecke keine Schreie, sondern Stöhnen hervorruft, verlieren die Bilder geöffneter Körper an Wirklichkeit und an Signifikanz. Caprice schwärmt immer wieder von der „Bedeutung“, die eine bestimmte Performance-Idee entfalten könnte. Welche das aber auch nur vage sein könnte, bleibt unklar. Cronenberg, dessen Filme immer von einem unterschwelligen Humor mitbestimmt werden, nimmt die Kritik an dem kopflastigen Treiben vorweg. Ein Ermittler (Welket Bungué) zeigt ein Geschwulst an seinem Bauch und stellt den Kunstcharakter körperlicher Wucherungen grundsätzlich infrage: „Picasso? Duchamp? Vielleicht Francis Bacon?“

Crimes of the Future hingegen glaubt an die organische Kunst und nutzt jede Gelegenheit, um das Besteck in die Körper einfahren zu lassen. Die Bilder wirken abstrakt, auch wenn es in hoher Frequenz glitscht und matscht. In seiner Langsamkeit und Dialoglastigkeit hat Crimes of the Future etwas Essayistisches. Zwar gibt es so etwas wie einen Plot (eine Mutter erstickt ihren zum Plastikfresser mutierten Sohn, jetzt die Frage, ob man die Leiche des Kindes für eine Autopsie-Performance verwenden sollte). Aber alles in allem geht es, wie gesagt, um Ideen, die sich selbst als transgressiv verstehen. Wie zum Beispiel um die Frage, wie staatliche Instanzen – die hier von zwei drögen, vom „neuen Sex“ aber zunehmend faszinierten Verwaltungsangestellten (Kristen Stewart und Don McKellar) repräsentiert werden – auf evolutionäre Veränderungen reagieren, die das Wesen des Menschen infrage stellen.

Cronenbergs Mensch ist ein primär leibliches Wesen auf der Suche nach Intensität und Vermischung. Die Welt wird vom Körper aus gedacht, alles Soziale ist immer nur Instanz, die die dunklen, gewaltvollen Potenziale der Leiber einschränken will. Die frühen Filme Cronenbergs waren auch deswegen überzeugender, weil sie zugleich im B- und Exploitation-Movie-Universum wie auch in einer eigensinnigen Autorenfilmerlogik operierten. Wenn man die eine Hälfte abtrennt, bleiben nur Splatter und leerer Transgressionsgestus. Nimmt man die andere weg, wird es, wie in Crimes of the Future, immer wieder redselig und prätentiös. Einerseits. Andererseits gibt es nach wie vor niemanden, der im Kino eine derartig befremdliche und trotzdem im Wortsinn perverse und anziehende Atmosphäre zustande bekommt.

Flat auf Prime Video bzw. gegen moderates Entgelt auf diversen Plattformen

Crimes of the Future
Kanada, Griechenland 2022, Regie David Cronenberg
Mit Viggo Mortensen, Léa Seydoux, Kristen Stewart, Scott Speedman
Laufzeit 108 Minuten