Anatomie eines Falls

Der Gewinner der Goldenen Palme hat nun auch zwei Golden Globes – völlig zurecht.

Triet, Hüller, Anatomie eines Falls
Anatomie d'une chute, 2023, Justine Triet

„Anatomie eines Falls / Anatomie d’une chute“: Justine Triets Film seziert Wahrnehmungsmuster, ist ein intellektuelles Vergnügen und eine Sternstunde der Schauspielerei. Vereinzelt noch im Kino.

Als der Junge mit dem Hund vom Spaziergang zurückkommt, liegt der Vater vorm Haus in seinem Blut. Ein Sturz aus dem Dachbodenfenster. Danach sieht es zumindest aus. Ungünstig aufgekommen auf dem Schuppen, der dort unten steht. Von niemandem bemerkt, nach kurzer Zeit verstorben.

Seine Frau, die berühmte Schriftstellerin, die immer und überall arbeiten kann, wie sie sagt, hatte sich hingelegt. Mit Ohrstöpseln. Um die krachend laute Musik auszublenden, die der Mann, ihr Mann, hörte, während er das Dach isolierte. Um dort oben dann Gästezimmer einbauen zu können, deren Vermietung das dringend benötigte Geld einbringen und der Familie aus ihren finanziellen Nöten heraushelfen sollte. Die Lage des Hauses in den Bergen nahe Grenoble bietet dahingehend einen fantastischen Ausblick in die alpine Landschaft. Ob der Mann sie wohl ein letztes Mal noch gesehen hat, während er stürzte? Was hat er gesehen in den letzten Sekunden seines Lebens?

Triet, Hüller, Anatomie eines Falls
Sandra Hüller

Die Frau, seine Frau, hat jedenfalls nichts gehört, sagt sie. Wegen der Stöpsel im Ohr. Und weil sie geschlafen hat. Weil sie müde war vom Wein, den es heute bereits am Vormittag – oder war es früher Nachmittag? – gegeben hat. Eine Literatur-Studentin war gekommen, die mit der Autorin ein Interview führen wollte. Das allerdings bald schon abgebrochen werden musste, weil die Musik des Gatten lärmend von oben herab drang. Ein Sabotageakt. Ein Akt nicht sonderlich passiver Aggression. Nicht anders zu interpretieren, und bereits wenige Minuten nach Beginn des Films die erste Erschütterung der Wahrnehmung. Eine Erschütterung, die sich als Verbergen-Wollen im Gesicht der Schriftstellerin spiegelt. Ein Gesicht, das sie nicht verlieren will. – Doch es ist deutlich zu sehen, dass der Lärm des Gatten, der das Interview und damit auch ihre eigene Bedeutung sabotiert, sie verärgert. Aber einer Unbekannten gegenüber diesen Ärger zugeben?

Zweifellos steht und fällt Justine Triets Anatomie eines Falls / Anatomie d’une chute mit Hauptdarstellerin Sandra Hüller, die es übernommen hat, diese Sandra Voyter zu spielen. Eine Heldin im Zwielicht, eine Frau, die sich nicht zum Opfer machen lässt, aber damit nicht automatisch zur Täterin wird. Das Vermögen Hüllers, zugleich mit dem emotionalen Ausdruck einen zugehörigen Resonanzraum zu errichten, in dem Motiv und Absicht der Emotion reflektiert und hinterfragt werden können, kurz: eine Meta-Ebene in ihr Spiel einzuziehen, erreicht mit dieser Rolle ungekannten Reichtum und Tiefe. Die Möglichkeit von Lüge und Berechnung seitens ihrer Figur ist permanent latent; der Verdacht des Uneigentlichen, des Vorgeblichen steht unübersehbar im Raum – ein von Triet umkreister, in immer wieder neuen Anläufen konfrontierter Elefant, der nicht weicht und sich doch nicht stellt. Hüllers Darbietung ist es zu verdanken, dass Triets Konzept, das unter anderem auf die Infragestellung des Justiziablen zielt und sich im übrigen widerspiegelt in einer wie unsicher umher tastenden Kamera sowie dem Umstand, dass das gemeinsame Kind des gescheiterten Paares nahezu blind ist, aufgeht. Die Wahrheit bleibt bis zum Ende flüchtig. Ja, wo sie sich aufhält, ist schließlich sogar gar nicht mehr wichtig.

Denn als die Polizei den Todesfall, Vorfall, Unfall routinemäßig untersucht, stößt sie auf Unstimmigkeiten. Aus dem Fall wird ein Fall. Hat womöglich die Frau den Mann geschlagen und gestoßen? Hat der Mann gar Selbstmord begangen? Mit diesen Fragen steht plötzlich auch die Frau wie unter einem Brennglas. Beziehungsweise auf dem Prüfstand. War sie eine treu ergebene Gattin? Eine fürsorgliche Mutter? Eine leidenschaftliche Geliebte? All dies muss verneint werden; und mit einem Male wird uns klar, dass der Resonanzraum, den Hüller spielt, unseren Erwartungshaltungen und unserem Misstrauen in die Hände spielt. Die Selbstverständlichkeit, mit der Sandra Voyter, die sich als Schaffende versteht, ihrem Mann gegenüber, der das auch gerne gewesen wäre, auf ihrem Lebensentwurf besteht, wirkt eigensüchtig nur, weil wir es gewohnt sind, dass es der künstlerisch tätige Mann ist, der keine oder nur wenig Rücksicht auf seine Familie nimmt. Der umgekehrte Fall macht im ungünstigen Fall aus einer Frau, die weiß, was sie nicht will – nämlich die Verantwortung für das Versagen des Mannes zu übernehmen –, eine Verdächtige. „Anatomie“ also nicht zuletzt, weil auch Wahrnehmungsmuster und Vorurteile der Zuschauer:innen seziert werden.

Triets Arbeit ist ein intellektuelles Vergnügen, eine Sternstunde der Schauspielerei, ein authentisches Porträt einer komplexen Frau, ebenso rar wie bereichernd. Bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes wurde Anatomie eines Falls / Anatomie d’une chute mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Womit Justine Triet – nach Jane Campion (The Piano, 1993) und Julia Ducournau (Titane, 2021) – die seit Bestehen des Festivals erst dritte Filmemacherin ist, deren Werk mit diesem prestigeträchtigen Preis ausgezeichnet wurde. Wer sich dieses ärgerliche Ungleichgewicht vor Augen führt, versteht Sandra Voyter dann vielleicht besser.

 

Anatomie eines Falls / Anatomie d’une chute
Frankreich 2023, Regie Justine Triet
Mit Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner
Laufzeit 151 Minuten